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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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Annäherung
    Radfahrer sind eine merkwürdige Sorte Mensch. Sie scheinen eine gewisse Freude daran zu empfinden, sich zu quälen. Allein dass sie stundenlang auf diesen Martersätteln sitzen können, macht sie verdächtig. Überhaupt die Dauer ihrer Exerzitien. Radfahrer spulen im Jahr viele tausend Kilometer ab, wobei sie im Winter nicht etwa pausieren, sondern daheim oder in Trainingsräumen stundenlang
auf der Rolle
sitzen. Sie essen absonderliche Mengen Kohlehydrate und sind trotzdem dünn beziehungsweise vergleichsweise dünn.
    Außerdem rasieren sich viele von ihnen die Beine. Das war übrigens einer der Gründe, warum ein gewisser Lance Armstrong, als er noch allein und unbekannt daheim in Texas trainierte, von manchen Truck-Fahrern von der Straße abgedrängt wurde – ein Mann, der mit rasierten Beinen auf einem keine fossilen Brennstoffe verbrauchenden Zweirad herumfährt, gehört nach dem Verständnis eines echten Hillbillys halt mindestens in den Straßengraben. Hierzulande, in der diskursiv sich permanent besinnenden Zivilgesellschaft, wird man allenfalls erstaunt angeschaut, wenn man kurze Hosen trägt (dieses »ewige und abscheuliche Man«, wie Flaubert es nannte, ist keine verschämte Verfremdung, ich will nur nicht dauernd »ich« schreiben). Andrerseits eröffnen sich völlig neue Gesprächsthemen. Man kann etwa mit Kolleginnen über die angesagtesten Enthaarungsmethoden parlieren und die Frage »Wie, du rasierst dir die Beine?« locker miteinem »Du etwa nicht?« kontern oder generell die Ästhetik des Männerbeines ins Gespräch bringen. Ein trainiertes rasiertes gebräuntes Bein – in dieser Reihenfolge – sieht doch allemal zivilisierter aus als die Kräuselwolle auf manchen Extremitäten, welche für meine Begriffe allzu sehr von nicht hundertprozentig abgeschlossener Phylogenese zeugt. Ich werde, unabhängig davon, wie lange ich aufs Rad steige, wohl mein Lebtag daran festhalten, auf Teilen meiner Körperoberfläche die Spätzivilisation gegen das überständige Affenmenschenerbe durchzusetzen.
    Um eine halbwegs komische Anekdote einzustreuen: Meine erste Totalenthaarung fabrizierte ich in alkoholinduzierter Plötzlichkeit ungefähr gegen Mitternacht – ich hatte ja keine Vorstellung davon, wie viel Zeit es dauern und wie viele Klingen es kosten würde, bis der Bewuchs von meinen Gehwerkzeugen herabgeschält war. Zumal die Doppelklinge nach jeder Schneise, die sie gerodet hatte, an ihrer Ernte förmlich zu ersticken drohte. Kurzum: Es dauerte Stunden, die Nacht wurde lang, der Schlaf kurz. Am nächsten Tag hatte ich ein Interview mit einem recht berühmten und vor allem bedeutenden Philosophieprofessor zu führen. Ich entschuldigte mich gleich zu Beginn unseres Treffens bei ihm für meine kaum zu verbergende Müdigkeit und erklärte, die vergangene Nacht wenig geschlafen zu haben, weil ich bis tief in dieselbe damit beschäftigt gewesen sei, mir die Beine zu rasieren (die Indiskretion war wohl auf besagtes Übernächtigtsein zurückzuführen). Er nahm diese Information mit philosophischer Unerschütterlichkeit schweigend hin, und ich meinte schon, er habe sie überhört oder für einen dummen Scherz gehalten; wir führten das Interview zur Lage der Nation im Allgemeinen und Besonderen, und ich hatte meine Bemerkung längst vergessen. Aber als das Gespräch nach anderthalb Stundenbeendet, das Tonband ausgeschaltet und eine Flasche Pichon-Longueville Comtesse de Lalande geordert war, fragte er mich unvermittelt: »Aber
warum
haben Sie sich denn die Beine rasiert?« ––
    Bekanntlich tun Radfahrer dies vor allem deswegen, weil glatte Beine weitaus besser massiert und Schürfverletzungen nach Stürzen besser gesäubert und verarztet werden können. Selten gesteht einer den zusätzlichen ästhetischen Aspekt. Man – und frau sowieso – kann aber den Radsportzirkus auch als Nichthomosexueller beziehungsweise Nicht-Anatomiestudent kaum verfolgen, ohne dass der Blick wie automatisch auf diese Beine gelenkt würde. Die Schenkel von Jan Ullrich etwa sehen geradezu obszön aus, und angesichts solcher physischen Geografie frage ich mich, ob der Schöpfer gewisse Muskelstränge bei mir vielleicht einfach vergessen haben sollte.
    Natürlich weiß ich, dass es unverschämt ist, hier mit Namen dieser Außerirdischen zu kokettieren, als habe deren und mein Treiben außer der Art der Fortbewegung etwas miteinander zu tun. Diese Feststellung in aller grenzenlosen Bewunderung, sozusagen mit dem Hut in der
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