Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
und schließlich hörte es auf.
    »Die Sache ist«, sagte er, »du
stellst dir alle möglichen Fragen — habe ich dies falsch gemacht, habe ich das
falsch gemacht — am Ende glaubst du dann, du hast alles falsch gemacht. Dein
ganzes verdammtes Leben. Aber jetzt, wo ich eine Ahnung vom Ende habe, läuft
alles so schnell: ich kann nicht mehr anhalten und irgend etwas ändern. Ich...
schlittere einfach dem Ende zu.«
    Susie rief: »Mama?«
    »Wie in der Jackie-Gleason-Show
früher im Fernsehen«, sagte Sam. »Die immer mit dem großen Zoom anfing: vom
Hafen zur Skyline. Miami? Manhattan? Langsamer Schwenk übers spiegelglatte
Wasser: so stelle ich mir Sterben vor. Kein Bremsen! Nichts haftet mehr am
Boden! Keine Zeit, eine Biege zu machen!«
    »Mama, Telefon!«
    Delia nahm die Augen nicht von
Sams Gesicht, doch Sam sagte: »Geh lieber ran.«
    Sie rührte sich immer noch
nicht.
    »Das Telefon, Delia.«
    Nach einem Moment hob sie den
Hörer ab. »Hallo?« sagte sie.
    »Delia?«
    »Oh, Noah.«
    Sams Schultern sackten
herunter. Er drehte sich zum Fenster.
    »Bist du immer noch nicht
abgefahren?« schimpfte Noah.
    »Nein«, sagte sie und sah
unverwandt zu Sam. Er lehnte seine Stirn jetzt gegen die Fensterscheibe,
schaute in den Garten. »Ich weiß erst heute nachmittag, was wird«, erklärte sie
Noah.
    »Aber jetzt ist Nachmittag, und
ich bin einsam!« sagte er. Durch die Krankheit war er anscheinend wieder zu dem
Kind mit dem verletzlichen Gesicht geworden, wie ganz am Anfang. »Keiner
kümmert sich um mich! Großvater war da, wollte aber nicht bleiben, und jetzt
sind auch noch die Husten tropfen alle.«
    »Es gibt noch eine Packung
im... dein Großvater? War in Bay Borough?«
    »Höchstens eine
Billionstelsekunde.«
    »Was wollte er?«
    »Er sagte, er macht nur eine
kleine Ausfahrt, und dann ist er wieder weggefahren. Ich habe ihm gesagt, daß
ich krank bin, aber ihm ist das egal. Und Papa behauptet, ich habe nicht mal
Fieber, und Mama kann erst nach der Arbeit kommen, und außerdem läuft der
Fernseher nicht richtig.«
    »Lies ein Buch«, riet sie ihm.
»Ich bin bald wieder zu Hause. Entweder heute abend oder vielleicht morgen;
sagst du das deinem Vater?«
    Er stöhnte theatralisch, als
sie sich verabschiedete.
    »Entschuldigung«, sagte sie zu
Sam. »Das war nur — «
    Doch Sam erwiderte: »Na ja,
offenbar wirst du gebraucht«, und ging in Richtung Tür.
    »Sam?« sagte sie.
    Er blieb stehen und drehte sich
um.
    »Das war nur der kleine Junge, den
ich sonst versorge«, erklärte sie.
    »Das habe ich vermutet«, sagte
er, fast ohne seinen Mund zu bewegen.
    »Er ist erkältet und krank.«
    »Und du mußt wieder zu ihm nach
Hause.«
    Er klang so verkniffen, eng,
stahlhart; in ihrem Innern zog sich alles zusammen, aber sie zwang sich, ruhig
zu bleiben, und sagte: »Na, ja, schließlich wohne ich zufällig da.«
    »Ich bin vielleicht nicht
perfekt, Delia, aber wenigstens mache ich mir nichts vor«, sagte Sam.
    »Was soll das heißen?«
    »Ich laufe nicht herum und versuche,
die Uhr zurückzudrehen«, sagte er. »Sehe nicht zu, daß ich meine Kinder
loswerde, sobald sie schwierig werden, und werfe mich statt dessen einem neuen,
einfachen, kleinen Kind an den Hals!«
    Delia starrte ihn an. »Also,
das ist der Gipfel!« sagte sie. »Was weißt du denn schon? Vielleicht ist er
überhaupt nicht einfach! Vielleicht ist er genauso schwierig!«
    »Wenn das der Fall ist, kannst
du ja zusehen, daß du ihn auch wieder loswirst.«
    »Ich will ihn nicht wieder
loswerden!« schrie sie. »Ich bin zu Susies Hochzeit gekommen, und ich werde
wieder gehen, woher ich gekommen bin — und zwar sobald wie möglich, da kannst
du Gift drauf nehmen. Ich habe keineswegs vor, ihn wieder loszuwerden!«
    Sam betrachtete sie
teilnahmslos. »Habe ich das behauptet?«
    Und während sie nach Worten
rang, verließ er das Zimmer.
     
    * * *
     
    Wenn Delia wütend wurde, wurde
sie auch weinerlich, was sie ärgerte und immer wütender machte. Da stand sie
nun, laut klappernd in der Küche, kämpfte mit den Tränen, während sie das
Geschirr abwusch — Linda im Schlepptau, die sie trösten wollte. »Komm, komm«,
sagte sie. »Wir lieben dich doch, Dee. Deine Verwandten lieben dich. Vorsicht,
das ist Großmutters allerletzte Suppenschüssel. Wir stehen zu dir.«
    »Schon gut«, sagte Delia und
betupfte ihre Augen ungeduldig mit einem Handballen. Sie ließ Wasser über einen
Schwamm laufen. Er roch widerlich nach Koriander, säuerlich, als wäre er im
Schrank
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher