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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
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Nachthemdärmel fort,
doch sie hörten nicht auf.
    Sie schlug die Decke zurück,
gab auf die Katze acht, glitt aus dem Bett und ging barfuß zur Tür. Der Flur
war nur durch das eine runde Fenster hoch oben beleuchtet. Sie mußte sich den
Weg zu Sams Zimmer ertasten.
    Glücklicherweise stand seine
Tür angelehnt. Kein Geräusch verriet sie beim Eintreten. Doch er war wach, das
wußte sie. Nach all den Jahren wußte sie es natürlich, es lag einfach in der
Luft. Sie trat behutsam über die kühlen Dielen, dann der kratzige Teppich, dann
wieder kühle Dielen — Boden, über den sie gegangen war, seit sie Laufen gelernt
hatte. Sie setzte sich leicht auf die Bettseite, die früher ihre Seite gewesen
war. Sie sah, er lag auf dem Rücken. Ihre Augen filterten sein weißes Gesicht
aus dem wolkigen Halbdunkel. Sie flüsterte: »Sam?«
    »Ja«, sagte er.
    »Weißt du, der Brief, den du
mir nach Bay Borough geschrieben hast.«
    »Ja.«
    »Was hast du damals
durchgestrichen?«
    Er bewegte sich unter dem
Bettzeug. »Oh«, sagte er, »ich habe soviel durchgestrichen. Der Brief war ein
einziges Durcheinander.«
    »Ich meine die letzte Zeile.
Die, die du so durchge-x-t hast, daß ich sie bestimmt nicht mehr lesen konnte.«
    Zuerst antwortete er nicht.
Dann sagte er: »Ich weiß nicht.«
    Sie wäre beinah aufgestanden
und gegangen, doch sie zwang sich zu bleiben. Sie saß bewegungslos, wartete und
wartete.
    »Ich glaube«, sagte er
schließlich, »daß es vielleicht so etwas... also, etwas war, was Driscoll auch
überlegt hat. Ob es irgend etwas gab, das... weißt du, das dich überzeugen
konnte wiederzukommen.«
    Sie sagte: »Oh, Sam, du hättest
nur zu fragen brauchen.«
    Dann drehte er sich zu ihr, und
Delia legte sich unter die Decke, und er zog sie nah zu sich heran. Obwohl er
sie eigentlich noch nicht gefragt hatte. Nicht mit vielen Worten.
     
    * * *
     
    Lange nachdem sie eingeschlafen
waren, läutete das Telefon, und Delia kam nach und nach zu sich. So spät konnte
es nur ein Patient sein. Aber Sams Atem ging weiter rhythmisch, gleichmäßig;
also rückte sie Stückchen für Stückchen unter seinem Arm hervor und griff nach
dem Telefon.
    »Hallo?« sagte sie.
    »Mrs. Grinstead?«
    »Ja.«
    »Hier spricht Joe Bright.«
    Eine Stimme, klar, hellwach und
munter zur unchristlichen Zeit von... Sie warf einen Blick auf den Wecker. Ein
Uhr zweiunddreißig.
    »Hmm...« sagte sie.
    »Der Makler.« erinnerte er sie.
    »Oh!«
    »Sie haben mich angerufen? Sie
und Ihre Tochter?«
    »Oh! Ja!« sagte sie, immer noch
stockend.
    »Ich würde sonst nicht so spät
anrufen, aber Sie meinten, es ginge um Leben und Tod, Mrs. Grinstead, und ich
bin eben erst zurückgekommen. Meine Schwiegermutter ist gestorben, ganz
plötzlich.«
    »Oh, das tut mir leid«, sagte
sie. Sie setzte sich beinah aufrecht hin. »Hm, Mr. Bright, der Grund meines
Anrufs war...« Sie schob das Telefon ans andere Ohr. »Meine Tochter wollte
wissen«, sagte sie. »Ja... ob sie Nägel in die Wände schlagen darf?«
    Schweigen.
    »Nur für den Fall, daß sie
Bilder aufhängen, oder, vielleicht einen Spiegel...«, sagte Delia schwächer.
    »Nägel«, sagte Mr. Bright.
    »Genau.«
    »Sie will wissen, ob sie Nägel
in die Wände schlagen darf.«
    »Genau.«
    »Nun«, sagte Mr. Bright.
»Sicher. Nehme ich mal an. Solange sie die Löcher zukitten, wenn sie ausziehen.«
    »Bestimmt!« sagte Delia. »Das
verspreche ich. Danke, Mr. Bright. Gute Nacht.«
    Wieder Schweigen, und dann
sagte er: »Gute Nacht.«
    Delia legte den Hörer auf und
legte sich wieder hin. Sie hatte angenommen, daß Sam schlief, aber dann hörte
sie ein kleines vergnügtes Geräusch. Sie mußte lächeln. Draußen, weit in der
Stadt, fuhr ein Schnellzug vorbei. Im Haus knarrte eine Diele, und kurz darauf
kam ein dumpfes Husten aus dem Zimmer, in dem Nat schlief.
    »Es ist eine Zeitreise«, hatte
Nat gesagt.
    Sie dachte, wie sie heute
nachmittag versucht hatte, sich Adrian vorzustellen. Sie hatte sich daran
erinnert, daß er ihrem High-School-Freund ähnlich gesehen hatte, und erst jetzt
erkannte sie: das Bild, das sie vor Augen hatte, war Sam gewesen, nicht der
Freund. Ein jüngerer Sam, ernst und erwartungsvoll, an jenem Tag, als er hier
ins Haus gekommen war.
    Es war alles eine Zeitreise
gewesen — die ganzen anderthalb Jahre. Anders als bei Nat, denn ihre Zeitreise
hatte funktioniert. Wie sollte sie es sonst sehen; sie war wieder an ihrem
Ausgangspunkt angelangt, zu Hause mit Sam, für immer? Während die
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