Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
Kinderhochstuhl, alles fix und fertig. Immer wenn ich dieses Foto
anschaue, muß ich denken: Das war garantiert der beste Augenblick des Tages.
Von da an ging es garantiert nur noch bergab. Die wirklichen Söhne und
Töchter kamen dann und stritten im wirklichen Leben um die Puterbeine, regten
sich über die Tischmanieren ihrer Kinder auf, brachten fünfzehn Jahre alte
Kränkungen aufs Tapet, und das Baby jammerte, bis alle Kopfschmerzen hatten.
Nur in jenem Augenblick«, sagte Nat, und seine Stimme zitterte, »als er das
Bild im Sucher hatte und knipste, war noch nichts davon geschehen, verstehen
Sie, und der Tisch sah so wunderschön aus, ein Traum von einem Tisch, und der
alte Savage war so glücklich und so, ich komme nicht drauf, so...«
    Aber jetzt versagte seine
Stimme vollständig, seine Hand zitterte, und er hielt sie vor die Augen und
senkte den Kopf. »Als sähe er die Zukunft!« flüsterte er in seinen Teller,
während Delia ihm hilflos über seinen Arm strich. »Entschuldigung! Entschuldigung!«
sagte er. Alle saßen wie erstarrt da. Dann sagte er: »Ha!« und richtete sich
auf, drückte den Rücken durch. »Kindbett-Depression, wahrscheinlich ist es
das«, sagte er. Er wischte sich mit seiner Serviette die Augen.
    »Nat hat ein drei Wochen altes Baby«,
erklärte Delia den anderen. »Nat, möchtest du noch —?«
    »Baby?« fragte Linda ungläubig.
    Sam sagte: »Ich dachte, Nat sei
dein Freund, Linda.«
    »Nein, meiner«, sagte Delia.
»Er wohnt an der Küste im Osten und hat gerade einen kleinen Jungen bekommen,
einen wunderschönen Jungen, ihr müßtet mal sehen, wie — «
    »Das Unverantwortlichste, das
ich je im Leben angestellt habe«, sagte Nat heiser. »Was habe ich mir dabei nur
gedacht? Oh, nicht daß ich es darauf angelegt hätte, aber... warum habe ich da
mitgemacht? Wahrscheinlich dachte ich, es sei meine letzte Chance, ein guter
Vater zu werden. Bestimmt, denn wieso habe ich gedacht, es sei wieder ein
Mädchen? Meine übrigen Kinder waren alles Mädchen, wissen Sie. Ich habe wohl
angenommen, ich könnte alles noch einmal tun, diesmal richtig. Aber ich bin bei
James genauso ungeduldig wie früher bei meinen Töchtern. Genauso streng und
intolerant. Warum hält er keine Zeiten ein, warum muß er zu jeder möglichen und
unmöglichen Stunde schreien... Oh, für das Kind wäre es das beste, ich würde
mich schleunigst in den vierten Stock verziehen.«
    »In den vierten Stock? Oh«,
sagte Delia. »Oh, Nat! Nicht einmal denken darfst du das!« sagte sie und strich
ihm mit Nachdruck seinen Arm.
    An seiner Hochzeit hätte sie wissen
können, sagte sie sich, daß auf soviel Lachen Weinen folgen würde, wie bei
einem überdrehten Kind, das zu lange aufbleiben durfte.
    »Ja. Also«, sagte Sam und
räusperte sich. »Heutzutage ist das überhaupt keine Seltenheit mehr: Eltern,
die nicht mehr die Jüngsten sind. Also, erst vergangene Woche habe ich gelesen,
ich, also wo habe ich denn gelesen...«
    »Sie dürfen nur nicht
vergessen, dies ist Ihr besonderer Auftrag« sagte Eliza, daß es schrillte. Sie
saß oben neben Sam und mußte sich vorbeugen, vorbei an einer Reihe höflich
ausdrucksloser Zuhörer, um Nats Gesicht ins Visier zu nehmen. »Ich glaube fest,
wir haben jeder den Auftrag, gewisse Erfahrungen zu machen«, sagte sie. »Und
dann am Ende unseres Lebens — «
    »Im New England Journal of
Medicine!« verkündete Sam triumphierend.
    Nat fragte Delia: »Könnte ich
mich irgendwo hinlegen?«
    »Ja, natürlich«, sagte sie,
schob ihren Stuhl zurück und reichte ihm seinen Stock. »Entschuldigt uns,
bitte«, bat sie.
    Alle nickten verlegen. Als sie
und Nat den Flur durchquerten, spürte sie, wie die übrigen sich hinter ihren
Rücken verstohlene Blicke zuwarfen.
    »Vorsicht, die Treppe«, warnte
sie Nat. »Schaffst du das?«
    »Oh, ja, wenn ich mich bei dir
einhaken darf. Entschuldige, Delia. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
    »Du bist nur müde«, beruhigte
sie ihn. »Hoffentlich hast du nicht vor, heute abend noch zurückzufahren.«
    »Nein, lieber nicht«, sagte er.
Auf jeder Stufe rappelte sein Stock leise, wie eine Handvoll Würfel. Sein Arm
in der Tweedjacke war nur Haut und Knochen.
    »Ich beziehe dir ein Bett«,
sagte Delia, als sie im ersten Stock waren, »und dann rufst du Binky an und
sagst, daß du hier übernachtest.«
    »Gut«, sagte er folgsam. Er
hinkte durch die Tür, die sie ihm öffnete, und sank in den Sessel mit dem losen
Stoffbezug.
    »Früher gehörte das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher