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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
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Kaffeebecher. »Auf das Brautpaar!«
    Driscoll sagte: »Ach, danke —«,
und hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, wer dieser alte Mann war,
reagierte aber wie üblich gutgelaunt. »Hallo, Ma?« sagte Paul ins Telefon, dann
tauchte Carroll aus dem Eßzimmer auf, und im selben Augenblick erschien Eliza
in der Hintertür; beide erfuhren den neusten Stand der Dinge. Eliza fragte
immerzu: »Wen? Wen hat er mitgebracht?«, die Stirn entgeistert gerunzelt, die
Handtasche an ihren Busen gedrückt, und Courtney schlängelte sich an Carroll
heran und fragte: »Carroll Grinstead? Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich
erinnerst«, und die Zwillinge bestanden darauf, sich diesmal zur Hochzeit die
Lippen zu schminken.
    Delia nahm ihr Schneidebrett,
verzog sich in eine weniger bevölkerte Ecke und begann den Ingwer zu schneiden.
Ihr chinesisches Gericht bestand aus elf verschiedenen Zutaten, die meisten zu
streichholzdünnen Scheibchen geschnitten, in Schüsseln aufgereiht, um sie
schnell in der Pfanne zu braten. Bis jetzt war sie erst bei Schüssel Nummer
Vier angelangt. Aber sie war dankbar, daß sie etwas zu tun hatte. Sie schnitt
rhythmisch vor sich hin, ohne nachzudenken, ließ das Stimmenmeer um sich
branden. Klick-klick landete das Messer auf dem Schneidebrett. Klick-klick, und sie ließ ihre Gedanken in eine Richtung gleiten, während sie die
Ingwerwurzeln in die Schüssel schnitt.
     
    * * *
     
    Zu seiner vollen Größe
ausgezogen, füllte der Tisch das ganze Eßzimmer. (»Dieses Tischtuch stammt aus
der Aussteuertruhe eurer Großmutter«, erklärte Linda den Zwillingen. »Den Fleck
hat eure Tante Delia mit einem Currygericht gemacht. Ihr ist das sowieso egal;
sie war der Liebling eures Großvaters; sie geht mit diesen Sachen um, als kämen
sie alle von Woolworth.«) Zwölf Gedecke standen auf dem Tisch — fünf an jeder
Seite und zwei an den Enden. Sie hatten überlegt, ob sie Eleanor einladen
sollten, aber Susie wollte kein böses Omen für ihre Hochzeit, dreizehn am
Tisch; und als sie Ramsay anriefen, nahm keiner ab.
    »Courtney, ich setze dich hier
in die Mitte«, sagte Delia. »Dann Paul, du sitzt neben Courtney...«
    Courtney hatte offensichtlich
bereits beschlossen, neben Carroll zu sitzen, so daß Paul zwischen den
Zwillingen landete; nicht daß die Zwillinge darüber nicht ausgesprochen
begeistert gewesen wären. Und die übrigen standen noch, führten ihre
Unterhaltung aus dem Wohnzimmer weiter — es ging um Mr. Knowles’ prickeligen
Arm. »Das hat schon Vater immer gesagt!« rief Eliza gerade. »Immer hat er
gesagt, er hätte gern ein Schmerz-Lexikon. Die Symptome, mit denen die
Patienten ankamen — ›Pepsi-Glucker-Magen‹ oder ›Quengelrücken!‹«
    »Driscoll, du sitzt neben
Linda«, sagte Delia, aber Driscoll tat, als lauschte er interessiert Elizas
Ausführungen, und angelte sich geschickt den Stuhl neben Susie. Delia gab sich
geschlagen. »Oh, setz dich, egal wohin«, forderte sie Nat auf, und Nat setzte
sich prompt genau dorthin, wo Delia es vorgesehen hatte, nämlich zu ihrer
Rechten. »Nimm dir vom Reis«, sagte sie und reichte ihm die Schüssel; den anderen
erklärte sie: »Es wird alles kalt!«
    Eliza saß Sam zur Linken, zu
dem, was Sam sagte, schüttelte sie den Kopf. »Wer weiß das schon?« sagte er
gerade. »Vielleicht ist es egal: ein Nagelgeschwür für den einen, Krebs für den
anderen. Es kommt alles aufs gleiche raus, alles am Rande des Erträglichen.«
    »Sam Grinstead, das glaubst du
doch selbst nicht!« meckerte Linda. »Welch absurde Idee!«
    Delia sagte: »Paul, nimm dir
von dem Brot, wenn du willst, und reich es dann, bitte, weiter. Ihr Lieben!
Setzt euch!«
    Sehr plötzlich saßen alle. Ihr
Rededrang war offenbar abgeflaut, und es gab eine Pause, in der Paul mit
deutlichem Plumps ein Stück Brot auf den Tisch fallen ließ. Er bleckte lächelnd
seine Zähne, hob es auf und fegte die Krümel in seine Hand.
    Nat sagte: »Kennt jemand von
Ihnen die Fotografien von C. R. Savage?«
    Die Erwachsenen blickten
höflich interessiert in seine Richtung.
    »Ein Fotograf aus dem
neunzehnten Jahrhundert«, sagte er. »Machte vermutlich noch Bilder mit einer
großen Plattenkamera. Mir ist gerade ein Bild eingefallen, das er gegen Ende
seines Lebens aufgenommen hat. Sein Eßzimmertisch ist darauf, gedeckt zum
Weihnachtsessen. Savage selbst sitzt zwischen lauter leeren Stühlen und wartet
auf seine Familie. Stuhl neben Stuhl neben Stuhl, das Tafelsilber ausgelegt,
sogar ein
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