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Klang des Verbotenen

Klang des Verbotenen

Titel: Klang des Verbotenen
Autoren: Reinhard Febel
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wird abends den Gesängen der Frauen und Mädchen lauschen und daraus etwas entstehen lassen – anderes zwar als in Napoli, doch nach demselben Prinzip, denn es gibt nur dieses: Klänge von außen stoßen im Inneren etwas an, die Ohrwürmer im Kopf erzeugen Resonanz und endlich musikalische Gestalten, die sich dann in Noten denken und schließlich sogar aufschreiben lassen, wobei die Finger schon mitzucken und an einer imaginären, nichtstofflichen Tastatur prüfen, was möglich ist und wie es klingt, das heißt, klingen wird.
    Escarlatis Reisekiste war geöffnet, doch noch nicht leergeräumt. – Ach, lass mich noch eine Weile ankommen, das ist ein schönes Gefühl. – lediglich einige Röcke, Wämser und Mützen hatte Domingo über Stühle und Bett gehängt. Die Perücke lag ausgeschüttelt auf einer Hose wie ein schlafendes Hündchen, daneben der Rest des Notenstapels, der in Napoli an Bord gegangen war: die beiden Sonatensammlungen. Mehr als neunzig Prozent Schwund, was Escarlatis Partituren betrifft – das ist für eine Seereise beträchtlich, selbst wenn man Piratenüberfälle, Unwetter und Meutereien mit einkalkuliert! Ach was! Weg ist weg.
    Die Opern ruhen jetzt auf dem Meeresgrund, ja, dort gehören sie auch hin, einige Bände wohl schon zerfallen, andere, auf besserem Papier, halten vielleicht noch eine Weile zusammen, schlängeln aufgeschlagen in der Strömung wie Seeanemonen, bis die einzelnen Blätter endlich auch durchweichen und davontreiben. Ein schönes Grab für Musik.
    Escarlati spürte keine Reue, hatte die Stunden, Tage und Monate, die er damit verbracht hatte, Noten auf Linien zu kratzen anstatt sich im nächtlichen Napoli herumzutreiben, aus der Erinnerung getilgt. Das muss man auch, wenn man ein neues Leben beginnen will.
    Kaiser, Prinzen, Ritter, Burgfräulein mit mittelmäßigen Arien auszustatten – was für ein Unsinn! Nie wieder!
    Am frühen Morgen schon hatte Escarlati in den beiden Notenheften geblättert, auf dem Bett sitzend. Die Stücke erklangen in seiner Vorstellung, ohne dass er dazu etwas tat, mehr noch, das Klingen ließ sich gar nicht vermeiden! Nun, dies ist doch selbstverständlich?
    O nein, wusste Escarlati, das ist es nicht, wobei er seltsamerweise an seinen Vater dachte. Keineswegs. Lange hatte es gedauert, bis ihm klar geworden war, dass dies durchaus nicht für jeden, der sich Komponist schalt, zutraf. Nein, ganz im Gegenteil. Er hatte begriffen, dass minderbegabte Kollegen, und die meisten waren das, ihre Einfälle erst mehrmals von einem in ein anderes Medium übersetzten – ganz wie aus einer Sprache in eine andere und dann nochmals in eine andere. Zuerst probieren sie den realen Klang an der Klaviatur – welch lächerliche Krücke, das musste man doch einfach wissen! –, dann zwängten sie sie mit Ach und Krach in Notenköpfe, legten die üblichen Harmonien darunter, trugen sie in eine Partitur ein, breiteten sie über die üblichen Instrumente in üblicher Weise aus und erst zuletzt, bei der Aufführung, nahmen sie sie wieder als Klang wahr, der sie dann oft selbst überraschte.
    Und fertig ist die neue Oper! Papa, hast du es nicht auch so gemacht? Beinahe hundert Mal?
    Woher aber, da ich doch die Krücken nicht brauche, habe ich nur meine Selbstzweifel?, fragte sich Domingo, als er an Papa dachte, und klappte die dünnen Hefte zu, schloss sie aber nicht weg. Soll sie doch jemand klauen, ist alles in meinem Schädel drin, haha! Da müsste man mir schon den Kopf abschneiden und auf den Rumpf eines anderen, minderen Kapellmeisters nähen, jawohl, dann kämen die Stücke vielleicht wieder heraus, und jener könnte sie aufschreiben und als die seinen ausgeben. Und ich, ich hätte endlich Ruhe.
    Er spürte den Wein, genauer gesagt, die drei Gläser Fino auf nüchternen Magen, denn mittlerweile war es schon Mittag und er stand in einer finsteren, mit Schweinefüßen vollgehängten Bodega. Der Himmel voller Geigen? – Na, das nicht gerade; Schinken und Flaschen sind’s!
    Hätte ich nur endlich Ruhe. Ruhe? Das ist eine Einbildung. Ich kann nicht aufhören zu arbeiten; etwas arbeitet wie von selbst in mir. Nur bremsen kann ich mich manchmal, so wie jetzt, denn, nein, noch ist es nicht an der Zeit, eine neue Sonate zu versuchen. Ja, deshalb bedeutet für mich gerade die Ruhe in Wirklichkeit Anspannung! So, wie sich ein Damm gegen das Wasser stemmt, bis dieses genügend Druck hat und wieder über die Felder geleitet werden kann.
    Genug der Grübelei, Geduld! Domingo
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