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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Autoren: Sue Grafton
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möglich ist, aber es hat keinen Sinn, darüber zu streiten. Jedem das Seine, wie man so sagt.«
    »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es sein muß«, sagte ich.
    »Und ich kann es auch nicht beschreiben. Das ist ja das Höllische daran. Wir sind nicht mehr wie gewöhnliche Menschen. Wenn einem ein Kind umgebracht wird, stammt man von dem Moment an von einem anderen Planeten. Man spricht nicht mehr dieselbe Sprache wie andere Leute. Sogar in dieser Selbsthilfegruppe sprechen wir anscheinend verschiedene Dialekte. Alle klammern sich an ihren Schmerz, als gäbe es eine spezielle Lizenz zum Leiden. Man kann nichts dagegen tun. Wir denken alle, unser Fall sei der schlimmste, von dem wir je gehört haben. Der Mord an Lorna ist nie aufgeklärt worden, also halten wir natürlich unser Leid deshalb für quälender. Bei einer anderen Familie wurde vielleicht der Mörder des Kindes gefaßt und mußte ein paar Jahre sitzen. Jetzt ist er wieder frei, und sie müssen damit leben — mit dem Wissen, daß da so ein Kerl herumläuft, Zigaretten raucht, Biere kippt und jeden Samstagabend einen draufmacht, während ihr Kind tot ist. Oder der Mörder ist nach wie vor im Gefängnis und bleibt auch bis ans Ende seiner Tage dort, aber er hat es warm und sicher. Er bekommt jeden Tag drei Mahlzeiten und die nötige Kleidung. Vielleicht sitzt er ja sogar im Todestrakt, aber er wird nicht tatsächlich sterben. Kaum einer stirbt, es sei denn, er bittet um seine Hinrichtung. Und warum auch? Die ganzen weichherzigen Anwälte machen sich ans Werk. Das System ist so eingerichtet, daß sie allesamt am Leben bleiben, während unsere Kinder für alle Zeiten tot sind.«
    »Quälend«, sagte ich.
    »Ja, das ist es. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wie weh es tut. Ich sitze da unten in diesem Raum, höre mir die ganzen Geschichten an und weiß nicht, was ich tun soll. Es ist nicht so, daß es meinen Schmerz verringern würde, aber zumindest macht es ihn zu einem Teil von etwas. Ohne die Selbsthilfegruppe löst sich Lornas Tod einfach in Luft auf. Als wäre es allen egal. Die Leute reden nicht einmal mehr darüber. Wir sind alle tief verletzt, und deshalb fühle ich mich nicht so abgeschnitten. Ich bin nicht von ihnen isoliert. Unsere emotionalen Wunden treten nur in verschiedenen Formen auf.« Ihr Tonfall war die ganze Zeit nüchtern geblieben, und daher wirkte der dunkle Blick, den sie mir zuwarf, um so schmerzlicher. »Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie mich nicht für verrückt halten... jedenfalls nicht für verrückter, als ich wirklich bin. Wenn einem ein Kind ermordet wird, rastet man aus. Manchmal erholt man sich und manchmal nicht. Was ich damit sagen will, ist, daß ich weiß, daß ich besessen bin. Ich denke viel mehr über Lornas Mörder nach, als ich sollte. Wer immer das getan hat, soll dafür bestraft werden. Ich will die Sache bereinigt haben. Ich will wissen, warum er es getan hat. Ich will ihm ins Gesicht sagen, was er mit meinem Leben gemacht hat, als er ihres genommen hat. Die Psychologin, die die Gruppe leitet, sagt, ich muß einen Weg finden, um meine Kraft wiederzugewinnen. Sie sagt, es sei besser, wütend zu werden, als sich weiterhin verzweifelt und wehrlos zu fühlen. So. Deshalb bin ich hier. Genau darum geht es.«
    »Etwas zu unternehmen«, sagte ich.
    »Exakt. Nicht bloß reden. Das Reden habe ich restlos satt. Es führt zu nichts.«
    »Sie werden noch ein bißchen mehr reden müssen, wenn Sie meine Hilfe wollen. Möchten Sie Kaffee?«
    »Ich weiß. Gern. Am liebsten schwarz.«
    Ich schenkte zwei Becher ein, goß Milch in meinen und wartete mit weiteren Fragen, bis ich wieder saß. Ich griff nach dem Notizblock auf meinem Schreibtisch und einem Stift. »Es widerstrebt mir, Sie die ganze Sache noch einmal durchleben zu lassen, aber ich brauche wirklich die Einzelheiten, zumindest soweit Sie sie kennen.«
    »Verstehe. Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert, bis ich es hierher geschafft habe. Ich habe diese Geschichte vermutlich schon sechshundertmal erzählt, aber es wird nie leichter.« Sie blies auf die Oberfläche ihres Kaffees und nahm einen Schluck. »Guter Kaffee. Stark. Ich hasse zu dünnen Kaffee. Schmeckt nach nichts. Lassen Sie mich überlegen, wie ich es sage. Ich glaube, was Sie an Lorna verstehen müssen, ist, daß sie ein unabhängiges junges Ding war. Sie machte alles auf ihre Art. Es war ihr egal, was andere Leute dachten, und sie war der Meinung, daß das, was sie tat, niemanden sonst etwas
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