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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Autoren: Sue Grafton
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mit reflektierendem Klebeband markiert. Er verursachte keinerlei Geräusche, außer dem leisen Summen der Luft, die durch die Speichen zog. Ich merkte, wie ich ihm nachstarrte, als wäre er eine Erscheinung.
    Ich drängte mich durch das Tor, das sich mit einem beruhigenden Quietschen wieder schloß. Im Hinterhof blickte ich automatisch zum Küchenfenster meines Vermieters, obwohl ich wußte, daß es dunkel war. Henry war nach Michigan gefahren, um seine Familie zu besuchen und sollte erst in zwei Wochen zurückkommen. Ich paßte auf sein Haus auf, holte die Zeitung herein, sortierte seine Post und schickte ihm alles nach, was wichtig aussah.
    Wie üblich stellte ich erstaunt fest, wie sehr er mir fehlte. Ich hatte Henry Pitts vor vier Jahren kennengelernt, als ich nach einem kleinen Apartment suchte. Ich war überwiegend in Wohnwagenparks aufgewachsen, wo ich mit meiner unverheirateten Tante lebte, nachdem meine Eltern umgekommen waren, als ich fünf war. Zwischen zwanzig und dreißig war ich zweimal kurz verheiratet, was meinen Sinn für Beständigkeit nicht gerade gefördert hat. Nach Tante Gins Tod zog ich wieder in die tröstliche Enge ihres gemieteten Wohnwagens. Damals hatte ich bereits bei der Polizei von Santa Teresa aufgehört und arbeitete für den Mann, der mir vieles von dem beibrachte, was ich heute über private Ermittlungen weiß. Als ich die Lizenz und ein eigenes Büro hatte, bewohnte ich nacheinander eine Reihe von Einzel- und Doppelwohnwagen in verschiedenen Wohnwagenparks von Santa Teresa, zuletzt im Mountain View Mobile Home Estates draußen in Colgate. Vermutlich hätte ich noch ewig dort gelebt, wenn ich nicht mitsamt einem Teil meiner Nachbarn vertrieben worden wäre. Mehrere Anlagen in der Gegend, darunter auch Mountain View, hatten auf »Senioren ab 55« umgestellt, und die Gerichte prüften die ganzen Diskriminierungsklagen, die infolgedessen eingereicht worden waren. Ich brachte nicht die Geduld auf, auf ein Ergebnis zu warten, und so begann ich, Einzimmerapartments abzuklappern, die zu vermieten waren.
    Mit Zeitungsanzeigen und Stadtplan bewaffnet fuhr ich von einem erbärmlichen Angebot zum nächsten. Die Suche war niederschmetternd. Alles in meiner Preislage (das ganze Spektrum von ganz billig bis äußerst bescheiden) lag entweder miserabel, war vollkommen verdreckt oder hoffnungslos heruntergekommen — von Eigenschaften wie Charme oder Charakter ganz zu schweigen. Ich stieß zufällig auf Henrys Angebot, das im Waschsalon aushing, und sah es mir nur an, weil es in der Nähe war.
    Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich meinen VW zum ersten Mal dort parkte und mir den Weg durch Henrys quietschendes Tor bahnte. Es war März, und ein leichter Regen hatte die Straßen mit einem matten Glanz überzogen und die Luft roch nach nassem Gras und Narzissen. Die Kirschbäume blühten, und der Gehsteig vor dem Haus war mit rosafarbenen Blütenblättern übersät. Das Apartment war früher eine Einzelgarage gewesen, die zu einer winzigen »Single-Wohnung« umgebaut worden war, und hatte fast genau die doppelte Fläche von dem, was ich gewohnt war. Von außen sah es nach rein gar nichts aus. Die Garage war mit dem Haus durch eine offene Passage verbunden, die Henry verglast hatte und in der er meistens riesige Klumpen Brotteig gehen ließ. Er war früher Bäcker und ist jetzt Rentner, steht aber nach wie vor früh auf und bäckt fast jeden Tag.
    Sein Küchenfenster stand offen, und die Düfte von Hefe, Zimt und köchelnder Spaghettisoße wehten übers Sims hinaus in die milde Frühlingsluft. Bevor ich klopfte und mich vorstellte, wölbte ich am Fenster des Apartments die Hände und äugte hinein. Damals war es wirklich nur ein großer Raum von etwa fünfundzwanzig Quadratmetern und einer schmalen Nische mit einem kleinen Bad und einer kombüsenartigen Küche. Inzwischen ist der Raum um eine zweite Etage mit einer Schlafnische und einem zusätzlichen Badezimmer erweitert worden. Bereits damals, in seinem ursprünglichen Zustand, brauchte ich nur einen Blick, um zu wissen, daß ich zu Hause war.
    Als Henry die Tür aufmachte, trug er ein weißes T-Shirt, Shorts, Gummischlappen an den Füßen und einen Lappen um den Kopf. Seine Hände waren von Mehl bestäubt, und seine Stirn zierte ein weißer Fleck. Ich nahm den Anblick seines schmalen, gebräunten Gesichts mit den weißen Haaren und den leuchtendblauen Augen in mich auf und fragte mich, ob ich ihn in einem früheren Leben schon einmal gekannt
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