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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Dinge aus verschiedenen Zeiten: Wie süß der Saft ist, den man als Kind aus den Trichtern der Akazienblüten saugt, und dein beleidigtes Schweigen auf einem frühen Spaziergang mit H., weil er dich, die sich etwas zugute hielt auf ihre Vorliebe für märkische Kiefernwälder, bei einer Verwechslung von Kiefer und Fichte ertappt hatte.
    Gesagt hast du zu Lutz, daß deine ersten Erinnerungen an ihn alle mit Unrecht, Mord und Zank zu tun haben.
    Da kann man nichts machen, sagte er, erinnerte dich nun aber an die große Szene, die unter der Überschrift: Wie Lutz verlorenging und wiedergefunden ward in dieFamilienchronik eingegangen ist. Jene entsetzliche Stunde, da Nelly, zuerst allein, dann mit der Mutter im wehenden weißen Ladenmantel, schließlich inmitten einer Schar von Nachbarskindern und -frauen, auf der Straße, auf dem Sonnenplatz, in den GEWOBA-Höfen, endlich bis in die Wepritzer Berge hinein den Bruder suchte, alle Stufen von Unruhe über Angst bis zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erfuhr und sich immer den einen Satz wiederholen mußte: Wenn er tot ist, bin ich schuld.
    (Dies als erster überlieferter Fall von »Schwarzsehen« bei Nelly, eine Anlage, welche die Mutter ihr vererbt hatte; Bruno Jordan, dem das Bedürfnis abging, verstand darunter die innere Vorwegnahme zukünftiger unglücklicher Vorkommnisse und verwies es seiner Frau zeit ihres Lebens, immer so schwarzzusehen. Wenn du doch bloß nicht immer so schwarzsehen müßtest!)
    Nach einer geschlagenen Stunde erst kam jemand auf die Idee, im Kinderzimmer den Tisch vom Sofa wegzurücken, und da lag denn der Bruder in seinen roten Strickhosen, und alle konnten herbeiströmen und sich über den schlafenden Lutz kaputtlachen, der von all dem Lärm nicht wach wurde und der nichts davon hatte, daß die Nachbarn mit Schnaps und die Kinder mit Brause auf sein Wiedererscheinen anstießen. Nelly aber lachte nicht und trank nicht, ihr unverwandt unglückliches Gesicht fing die anderen zu stören an, sie schlich sich weg und heulte, als die Mutter erklärend gesagt hatte, das Mädel hänge nun mal so an dem Jungen, es sei nun mal so gewissenhaft. Daß der Bruder gesund und glücklich war, anstatt tot zu sein, schaffte aber die Tatsache nicht aus der Welt, daß eine Schwester überihren Schularbeiten den Bruder vergessen konnte, daß sie ihm, kaum von den Büchern aufsehend, ein gleichgültiges »Geh schon raus!« hingeworfen hatte, er aber nicht, wie jeder annahm, eigenmächtig davongeschlichen war.
    Doch das Geständnis, das aus der liebevollen, gewissenhaften Schwester ein kleines Ungeheuer gemacht hätte, würde nie über ihre Lippen kommen, soviel wußte sie schon. Und deshalb weinte sie. »Ich bin klein, mein Herz ist rein« wollte sie am Abend nicht mehr beten. Sie bestand auf »Müde bin ich, geh zur Ruh« – jenem Lied, das Heinersdorf-Großmutter zu singen pflegte, wenn sie ihr langes weißes Nachthemd angezogen, ihren dünnen grauen Zopf heruntergelassen und ihre Zähne in ein Wasserglas gelegt hatte. In der zweiten Strophe gab es die Zeilen, auf die es Nelly nun ankam: »Hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an.« – Denn mehr, wahrhaftig, durfte sie nicht hoffen.
    Nelly im Schulkindalter, ein Vorgriff. Doch irrt sich, wer hofft, das Thema Brudermord könne ein für allemal verlassen werden. Später wird es keine Rolle mehr spielen: Vielleicht – aber das mag eine abwegige Vermutung sein – hatte es sich erledigt, als es Nelly gelungen war, den Bruder zu verletzen, als die Erwachsenen ihre Tat endlich ernst nehmen mußten: Lutz, dessen rechter Arm in Kissen gepackt war, leise jammernd, Nelly ihm gegenüber, ihn leise anflehend, doch keine Schmerzen mehr zu haben. Die Mutter, im weißen Ladenmantel wie bei allen Unglücksfällen der Kindheit, die wortlos die Schere nimmt und Pullover und Hemd von des Jungen Arm herunterschneidet, das anschwellende Ellenbogengelenk freilegend. Die dann zum Telefon stürzt,verhandelt, wobei das fürchterliche Wort »Krankenhaus« fällt, das Nelly aus dem Kinderzimmer ins Wohnzimmer treibt, wo sie sich bäuchlings über das Sofa wirft und sich die Ohren zuhält. Die Mutter tritt ein, klopft ihr hart mit zwei Fingern auf die rechte Schulter und sagt einen jener übertriebenen Sätze, zu denen sie damals schon neigt: Du bist schuld, wenn sein Arm steif bleibt.
    Schuld ist seitdem: eine schwere Hand auf der rechten Schulter und das Verlangen, sich bäuchlings hinzuwerfen. Und eine mattweiße Tür,
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