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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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mitleidig »brav« nennt, weil sie so an dem Brüderchen hängt, sich so ängstigt; daß Nelly in Tränen ausbricht, obgleich jetzt »alles gut« ist. Wie konnte alles gut sein, wenn sie selbst nicht gut war.
    In das Haus seid ihr nicht hineingekommen. Ohne ersichtlichen Grund bliebst du links von der Treppe stehen, an den neuen achteckigen Peitschenmast gelehnt, dicht neben dem verfallenden niedrigen Lattenzaun, hinter dem ein Rest von Vorgarten sich erhält. Die Frau mit dem Kind auf dem Schoß, die auf der obersten Treppenstufe saß, hätte euch den Eintritt nicht verwehrt. Sie mag sich gedacht haben, warum ihr, halblaut in der ihr fremden Sprache miteinander redend, ein paar Fotos machtet, auf denen du jetzt, so scharf sind sie, die Stufenvor der rotbraunen Haustür nachzählen kannst: Es sind fünf. Du kannst auch, wenn es darauf ankäme, das Kennzeichen des Autos feststellen, das in dem zur Garage erweiterten ehemaligen Schaufenster gewaschen wird: ein alter Pobeda mit der Nummer ZG 8461; und – wenn auch die Bildschärfe im Hintergrund nachläßt – du kannst auf dem an der Hauswand angebrachten Straßenschild die polnische Schreibweise des Wortes »Sonnenplatz« erahnen: Plac Słoneczny, was du ohne Vermittlung durch das Russische kaum entziffert hättest.
    Insgeheim arbeitest du, während du scheinbar unbeweglich dastehst, an der Zimmereinteilung der Wohnung im Hochparterre links, von der sich trotz angestrengter Konzentration nur eine lückenhafte Vorstellung herstellen will. Orientierung in Räumen ist deine starke Seite nie gewesen. Bis dir »zufällig« – Zufall nie anders als zwischen Anführungszeichen – jener bucklige Brudermörder erschien und dich einschleuste in das Kinderzimmer, in dem rechts neben der Tür also des Bruders Bett steht, links der weiße Schrank, an dem Nelly sich vorbeidrückt, hinaus in den Korridor, auf den aus der Badezimmertür schräg gegenüber das gelbe Licht fällt.
    Und so weiter. Die Frau auf der Treppe – wie grüßt man auf polnisch? – wirst du nicht behelligen müssen. Ungesehen kannst du dich in die vergessene Wohnung einschleichen, ihren Bauplan ausspionieren, indem du dich den alten unplanmäßig ausbrechenden Leidenschaften noch einmal überläßt. So wirst du sehen, was das drei-, fünf-, siebenjährige Kind sah, wenn es vor Angst, Enttäuschung, Freude oder Triumph bebte.
    Die Probe: Das Wohnzimmer. Am Ende des Flurs, das ist gesichert. Vormittagslicht. Die Wanduhr rechts hinter dem hellbraunen Kachelofen. Der kleine Zeiger rückt auf die Zehn. Das Kind hält die Luft an. Als die Uhr zu schlagen anhebt, ein helles, eiliges Schlagen, schneidet Nelly ihre gräßlichste Fratze; hofft und fürchtet, Frau Elste möge recht behalten mit ihrer Drohung: daß einem »das Gesicht stehenbleibt«, wenn die Uhr schlägt. Der Heidenschreck, den alle kriegen würden, voran die Mutter. Auf einmal würde man sie um ihr richtiges Gesicht anflehn; dann, wenn alles nichts half, steckte man sie wohl ins Bett und telefonierte nach Doktor Neumann, der so geschwind wie der Wind in seinem kleinen Auto vorfuhr und seine riesenlange Gestalt über ihr Bett beugte, um überrascht das stehengebliebene Gesicht zu betrachten, dem Kind das Fieber zu messen und Schwitzpackungen zu verordnen, die das Gesicht wieder auftauen sollten: Kopf hoch, Homunkulus, das kriegen wir. Jedoch sie kriegten es nicht, und man mußte sich daran gewöhnen, daß ihr weiches, liebes, gehorsames Gesicht gräßlich blieb. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagte Frau Elste.
    Die Uhr hat zu Ende geschlagen, Nelly rennt zum Flurspiegel und glättet mühelos das Gesicht. (Da stand also schon die weiße Flurgarderobe mit dem viereckigen Spiegel.) Der Antwort auf die brennende Frage, ob Liebe wirklich um kein Stück kleiner wird, wenn man sie unter mehrere aufteilt, ist sie nicht nähergekommen. Dummchen, sagt die Mutter, meine Liebe reicht doch für dich und das Brüderchen. Die Butter, die sie im Laden verkaufte, reichte auch nicht für alle, denn Lieselotte Bornow aß Margarinestullen.
    Jetzt steht Nelly am Küchentisch (die einzige Gelegenheit, einen Blick in die Küche zu werfen, auf den mit grünem Linoleum bezogenen Tisch vor dem Fenster), beißt in das große gelbe Butterstück, fühlt den Klumpen im Mund schmelzen und als mildes fettiges Bächlein durch die Kehle rinnen, noch einmal, lutscht den Rest aus der Hand und leckt und schluckt, bis nichts mehr übrig ist.
    Da war das Glück schon vorbei. Sie wurde
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