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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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väterlichen Ladens vorbei, das mit Kathreiner-Malzkaffee-Päckchen und Knorr’s Suppenwürsten dekoriert sein mag und das heute (du weißt es seit jenem Julisonnabend des Jahres 71) zu einer Garageneinfahrt erweitert ist, in der vormittags um zehn, als ihr ankamt, ein Mann in grünem Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln sein Auto wusch. Ihr zogt den Schluß, daß alle die Menschen, die jetzt am Sonnenplatz wohnen – auch jene aus den neugebauten Häusern –, im Genossenschaftsladen unten an der Wepritzer Chaussee kaufen, ehemals Kaufmann Rambow. (Wepritz heißt Weprice, wie es vermutlich auch früher geheißen hat, denn selbst in deiner Schulzeit wurde zugegeben, daß Ortsnamensendungen auf -itz und -ow auf slawische Siedlungsgründungen hindeuten.) Das Kind, Nelly, biegt um die Ecke,steigt die drei Stufen hoch und verschwindet hinter seiner Haustür, Sonnenplatz 5.
    Da hättest du es also. Es bewegt sich, geht, liegt, sitzt, ißt, schläft, trinkt. Es kann lachen und weinen, Sandkuten bauen, Märchen anhören, mit Puppen spielen, sich fürchten, glücklich sein, Mama und Papa sagen, lieben und hassen und zum lieben Gott beten. Und das alles täuschend echt. Bis ihm ein falscher Zungenschlag unterliefe, eine altkluge Bemerkung, weniger noch: ein Gedanke, eine Geste, und die Nachahmung entlarvt wäre, auf die du dich beinahe eingelassen hättest.
    Weil es schwerfällt, zuzugeben, daß jenes Kind da – dreijährig, schutzlos, allein – dir unerreichbar ist. Nicht nur trennen dich von ihm die vierzig Jahre; nicht nur behindert dich die Unzuverlässigkeit deines Gedächtnisses, das nach dem Inselprinzip arbeitet und dessen Auftrag lautet: Vergessen! Verfälschen! Das Kind ist ja auch von dir verlassen worden. Zuerst von den anderen, gut. Dann aber auch von dem Erwachsenen, der aus ihm ausschlüpfte und es fertigbrachte, ihm nach und nach alles anzutun, was Erwachsene Kindern anzutun pflegen: Er hat es hinter sich gelassen, beiseite geschoben, hat es vergessen, verdrängt, verleugnet, umgemodelt, verfälscht, verzärtelt und vernachlässigt, hat sich seiner geschämt und hat sich seiner gerühmt, hat es falsch geliebt und hat es falsch gehaßt. Jetzt, obwohl es unmöglich ist, will er es kennenlernen.
    Auch der Tourismus in halbversunkene Kindheiten blüht, wie du weißt, ob dir das paßt oder nicht. Dem Kind ist es gleichgültig, warum du diese Such- und Rettungsaktion nach ihm startest. Es wird unbetroffen dasitzen und mit seinen drei Puppen spielen (die dritte,Ingeborg, ist eine Babypuppe aus Zelluloid, ohne Haar, mit einem himmelblauen Strampelanzug aus Flanell). Die Hauptmerkmale der verschiedenen Lebensalter sind dir geläufig. Ein dreijähriges normal entwickeltes Kind trennt sich von der dritten Person, für die es sich bis jetzt gehalten hat. Woher aber dieser Stoß, den das erste bewußt gedachte ICH ihm versetzt? (Alles kann man nicht behalten. Warum aber dies? Warum nicht, zum Beispiel, die Geburt des Bruders, kurze Zeit später?) Warum sind Schreck und Triumph, Lust und Angst für dieses Kind so innig miteinander verbunden, daß keine Macht der Welt, kein chemisches Labor und gewiß auch keine Seelenanalyse sie je wieder voneinander trennen werden?
    Das weißt du nicht. Alles Material, aufgehäuft und studiert, beantwortet solche Fragen nicht. Doch sage nicht, es war überflüssig, wochenlang in der Staatsbibliothek die tief verstaubten Bände deiner Heimatzeitung durchzusehen, die sich, zu deinem und der hilfsbereiten Bibliothekarin ungläubigen Staunen, tatsächlich im Magazin befunden hatten. Oder im »Haus des Lehrers« zu jenem streng versiegelten Raum vorzudringen, wo bis an die Decke die Schulbücher deiner Kindheit gestapelt sind, als Gift sekretiert, nur gegen Vorlage einer Sonderbeschreibung entleihbar: Deutsch, Geschichte, Biologie.
    (Erinnerst du dich, was Lenka sagte, nachdem sie die Seiten im Biologiebuch der zehnten Klasse betrachtet hatte, auf denen Vertreter niederer Rassen – semitischer, ostischer – abgebildet sind? Sie sagte nichts. Sie gab dir wortlos das Buch zurück, das sie heimlich genommen hatte, und äußerte kein Verlangen, es noch einmalzu haben. Dir kam es vor, als betrachte sie dich an diesem Tag anders als sonst.)
    Erinnerungshilfen. Die Namenlisten, die Stadtskizzen, die Zettel mit mundartlichen Ausdrücken, mit Redewendungen im Familienjargon (die übrigens nie benutzt wurden), mit Sprichwörtern, von Mutter oder Großmutter gebraucht, mit Liedanfängen. Du
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