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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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nicht groß und stark und sofort erwachsen. Ihr war übel. Die herrliche gelbe Gier wurde ihr als Fettmangel ausgelegt und in viele widerwärtige Butterbrote zerstückelt. Die mußte sie aufessen, während Frau Elste am Kinderzimmertisch die Wäsche bügelte und ihr beibrachte, wie man Herrentaschentücher zusammenlegt: So, so, so und so – fertig. Wenn Frau Elste sang: Morgenrohot, Morgenrohot, leuchtest mir zum frühen Tohod, quollen ihre sanften braunen Augen gegen ihren Willen beängstigend hervor, und die tennisballgroße Geschwulst an ihrem Hals vollführte die merkwürdigsten, auch für Frau Elste selbst unvorhersehbaren Bewegungen.
    Die Lage der Räume hinter jenen drei Fenstern im Hochparterre ist so gut wie aufgeklärt, ewig kann man sowieso nicht hier stehenbleiben. Langsam setzt ihr euch in Richtung Wepritzer Berge in Bewegung. Blindschleichen! Hat jemand Blindschleichen gesagt? In den Wepritzer Bergen soll es vor Blindschleichen nur so gewimmelt haben, wenn man Frau Busch glauben wollte. (Die Buschen! Zum erstenmal seit sechsunddreißig Jahren erscheint die redselige Mutter von Ella Busch aus den Pflesserschen Häusern, verzieht mokant den Mund: Aber Mädel, Blindschleichen sind doch nicht blind!)Doch entging den Leuten, daß sie niemals eine einzige von all den Blindschleichen zu sehen, geschweige denn zu fassen kriegten. Die einzige Erklärung dafür lag auf der Hand: Die Blindschleichen waren verwunschene Königskinder, die sich versteckt hielten, zierliche goldene Krönchen auf ihren fingerschmalen Schlangenköpfchen balancierten und mit gespaltener Zunge lispelnd nach ihren ebenfalls verwunschenen Geliebten riefen.
    Daß sie sich für blind ausgaben, bewies nichts als ihre verzweifelte Lage. Unsichtbar, das blieben sie allerdings, und das war nur allzu verständlich. Denn Nelly selbst sehnte sich inständig nach einer Tarnkappe, die ihr helfen könnte, Ungeheuern, bösen Menschen, Zauberern und Hexen zu entkommen, vor allem aber der eigenen aufdringlichen Seele. Die – bleich, blinddarmähnlich, sonst in Magennähe placiert – würde, des Körpers beraubt, allein, nackt und bloß in der Luft schweben, so daß man sie schadenfroh betrachten konnte.
    Vielleicht käme die Feuerwehr, wie bei Frau Kaslitzkis entflohenem Wellensittich, um die unstete Seele einzufangen. Alle Welt würde sich auf die Suche nach dem Körper machen, in den die Seele gehörte. Nelly aber würde ihre Seele zu den verwunschenen Blindschleichen schicken und sie dort ihrem überaus öden Schicksal überlassen, während sie selbst, wie eben jetzt, in ihrem Bett liegen und unangefochten grelle, wilde, verbotene Gedanken denken konnte. Nichts würde von nun an in ihr zucken, wenn sie log, nichts sich vor Angst zusammenziehn können oder sich winden, wenn sie sich selbst so leid tun mußte, weil sie womöglich doch ein vertauschtes Kind war: Fundevogel, heimatlos, ungeliebt trotz aller Beteuerungen. (Auch wenn sie imMärchenbuch die Seite überschmiert hat, auf der die Eltern von Hänsel und Gretel den Plan aushecken, ihre Kinder in den Wald zu führen: Wort für Wort steht das ungeheuerliche Gespräch in ihrem Innern, so daß sie abends lauschen muß, wenn das wirkliche Leben der Erwachsenen beginnt, was im Wohnzimmer gesprochen werden mag.)
    Ja: Der eigenen Seele ledig sein, der Mutter dreist in die Augen blicken können, wenn sie abends am Bett sitzt und wissen will, ob man ihr alles gesagt hat: Du weißt doch, daß du mir jeden Abend alles sagen sollst? Frech zu lügen: Alles, ja! Und dabei heimlich zu wissen: Niemals mehr alles. Weil es unmöglich ist.
    Das vernünftige Kind vergißt seine ersten drei Jahre. Aus dem mit leuchtenden Figuren besetzten Dickicht der Märchen tritt es mit ehrpusseligem Gesicht vor die Fotolinse. Irgendwann hat es erfahren, daß Gehorchen und Geliebtwerden ein und dasselbe ist. Entstellt durch jene Frisur, die man »Schlummerrolle« nennt, mit dem roten Bleyle-Pullover angetan, neben dem Kinderwagen des Bruders aufgebaut. Ein dümmliches Grinsen, Grimasse für Schwesternliebe. Das Gedächtnis, auf die rechte Weise genötigt (das heißt, nicht mit Strafe, nicht einmal mit Schuldgefühl bedroht), liefert Indizien für Bruderzwist, Bruderverrat und Brudermord, rückt aber ums Verrecken kein Bild der schwangeren Mutter heraus, keins von dem neuen Kind an der Mutter Brust. Keine Erinnerung an die Geburt des Bruders.
    Da kommt ja auch Schneidermeister Bornow über den Sonnenplatz. Die neuen Häuser sind
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