Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
begannst Fotos zu sichten, die nur spärlich zur Verfügung stehen, denn das dicke braune Familienalbum wurde wahrscheinlich von den späteren Bewohnern des Hauses an der Soldiner Straße verbrannt. Nicht zu reden von der Unzahl von Zeitinformationen, die einem, wenn man darauf achtet, aus Büchern, Fernsehsendungen und alten Filmen zufließt: Umsonst war das alles sicher nicht. Wie es nicht umsonst sein mag, gleichzeitig den Blick für das, was wir »Gegenwart« nennen, zu schärfen. »Massive Bombenangriffe der USA-Luftwaffe auf Nordvietnam.« Auch das könnte ins Vergessen sinken.
    Auffallend ist, daß wir in eigener Sache entweder romanhaft lügen oder stockend und mit belegter Stimme sprechen. Wir mögen wohl Grund haben, von uns nichts wissen zu wollen (oder doch nicht alles – was auf das gleiche hinausläuft). Aber selbst wenn die Hoffnung gering ist, sich allmählich freizusprechen und so ein gewisses Recht auf den Gebrauch jenes Materials zu erwerben, das unlösbar mit lebenden Personen verbunden ist – so wäre es doch nur diese geringfügige Hoffnung, die, falls sie durchhält, der Verführung zum Schweigen und Verschweigen trotzen könnte.
    Sowieso bleibt zunächst vielerlei Unverfängliches zu beschreiben. Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du, nicht ohne Rührung, ins Polnische übersetztauf den neuen blauen Straßenschildern wiederfandest. (Alles, was verwendbar geblieben war, freute dich, besonders Namen; denn zu vieles, Namen wie Adolf-Hitler-Straße und Hermann-Göring-Schule und Schlageterplatz, war unverwendbar für die neuen Bewohner der Stadt.) Mag sein, der Platz war auch früher schon ein bißchen schäbig. Stadtrand eben. Zweistöckige Wohnblocks der GEWOBA (ein Zauberwort, dessen Entschlüsselung als GEMEINNÜTZIGE WOHNUNGSBAUGENOSSENSCHAFT Nelly enttäuschte), Anfang der dreißiger Jahre in den weißen Flugsand der Endmoräne gesetzt, die die Wepritzer Berge, geologisch gesehen, darstellten. Eine windige Angelegenheit – dies die Ausdrucksweise der Mutter –, denn die Sandwüste war so gut wie immer in Bewegung. Bei jedem Sandkorn, das dir zwischen die Zähne gerät, schmeckst du den Sand vom Sonnenplatz. Nelly hat ihn oft zu Kuchen verbacken und gegessen. Sand reinigt den Magen.
    An jenem glutheißen Sonnabend des Jahres 71: Kein Hauch. Kein Stäubchen, das sich gerührt hätte. Ihr kamt, wie auch früher immer, von »unten«, das heißt von der Chaussee her, wo unter mächtig erstarkten Linden die Linie I der Städtischen Straßenbahn endet, auf der immer noch die alten rot-gelben Wagen ihren Dienst versehen. Das Auto hattet ihr an der Straße, vor der Südflanke der Pflesserschen Häuser abgestellt, die – mögen sie heute heißen, wie sie wollen – als riesiges Quadrat von zweihundert Meter Seitenlänge einen sehr großen Innenhof umschließen, in den ihr, den Sonnenweg hinaufgehend, den gewohnten Einblick durch Torbögen hattet: Alte Leute sitzen auf Bänken und sehen Kindern beim Spielen zu. Feuerbohnen und Ringelblumen.
    Wie einst – als in diesen Häusern, die ungestört um fast vierzig Jahre gealtert waren, Bruno Jordans schlecht zahlende Kundschaft wohnte – galt das Verbot, einen dieser Torbögen zu durchschreiten, einen dieser Höfe zu betreten. Daß kein GEWOBA-Kind seinen Fuß ungestraft auf Pflesserschen Grund setzte, war ein für allemal ausgemacht durch ein ungeschriebenes Gesetz, das keiner verstand und jeder hielt. Der Bann war gebrochen, der Haß zwischen den Kinderbanden vergangen. Doch an Stelle der Pfiffe und Steinwürfe der »Pflesserschen« bewachten die stummen Blicke der Alten auf den Bänken ihre Höfe vor Fremden. Die alte Sehnsucht, einmal auf einer von diesen Bänken zu sitzen, über die Jahre hin lebendig geblieben, war heute so unerfüllbar wie einst, mochten die Gründe dafür gewechselt haben.
    Merkwürdig, daß Bruder Lutz, der um vier Jahre Jüngere, diese Scheu nicht nur verstand, sondern zu teilen schien, denn er war es, der Lenka zurückhielt, als sie unbefangen durch den Torweg gehen wollte, der Beat-Musik nach, die von den Höfen kam, gezogen von der Lust auf Gleichaltrige. Laß, sagte Lutz, bleib hier. – Aber warum denn bloß? – Besser so. Im Weitergehen rechnetest du ihm vor, daß er mit genau vier Jahren den Sonnenplatz verlassen und ihn, da kein Anlaß vorlag, später nicht wieder besucht habe. Ja, sagte er, ohne sich zu einer Erklärung dafür herbeizulassen, woher er wußte, daß man die Pflesserschen Höfe nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher