Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
einschlafen. Auf einmal bildeten sich Sätze, die du als brauchbaren Anfang ansahst; jemand war also mit »du« anzureden. Der Tonfall hatte sich eingestellt. Du wolltest nicht glauben, daß du noch einmal von vorne anfangen solltest, aber am Morgen hatten die Sätze sich erhalten – wurden natürlich später getilgt –, der Tonfall war geblieben. Immer noch ungläubig, begannst du von neuem. Dir war, du hättest nun die Freiheit, über den Stoff zu verfügen.Schlagartig war dir auch klar, daß nicht ein schnell zu machendes Ergebnis zu erwarten war, sondern eine lange Zeit von Arbeit und Zweifel. Daß es nicht beim nächsten Buch Ernst würde, sondern bei diesem. Schön eigentlich, dachtest du.)
    Kurz nach dem Zwischenfall mit Helmut Waldin muß Nelly sich die Perle in die Nase gesteckt haben, wovor sie oft und dringlich gewarnt worden war. Eine kleine gelbe Holzperle, wie man sie Kindern schenkt, zum Kettenaufziehn, die aber, einmal im Nasengang, durch kein Pusten und Schnauben wieder herauszubefördern ist, die immer höher zu wandern schien, womöglich bis dahin, wo die Mutter die Gehirnwindungen vermutete und von wo aus es für eine Perle kein Zurück mehr gab. Nelly setzte den für Katastrophenfälle üblichen Mechanismus in Gang: Frau Elste, die Mutter im weißen Kittel, fliegende Finger, Telefon, die Straßenbahn. Eine Frau ihr gegenüber trieb die Geschmacklosigkeit so weit, dem lieben Gott dafür zu danken, daß dieses Kind sich keine Erbse in die Nase gesteckt hatte, die alsbald ins Quellen gekommen wäre, und dann ade, du mein lieb Heimatland!
    Nelly hätte den lieben Gott gern aus dem Spiel gelassen. Es lag ihr nicht daran, daß er die Gedanken in ihrem von der Perle bedrohten Gehirn ablas und unter ihnen eine Art Wunsch vorfinden würde: den sträflichen Wunsch, die eigene Mutter zu Tode zu erschrecken, indem man schädigte, was ihr das Liebste war: sich selbst.
    Der Arzt, ein Doktor Riesenschlag, nicht imstande, sich die verzwickte Bosheit dieses Kindes vorzustellen, ließ sie auf einem Lederhocker Platz nehmen, klapperte widerwärtig mit Metallinstrumenten auf Emailleschalen,bis er sich entschloß, eines dieser Instrumente in Nellys rechtes Nasenloch einzuführen, wo es sich, angeblich nach dem Regenschirmprinzip, auszudehnen begann und den Innenraum der Nase erweiterte, bis der Perle nichts übrigblieb, als mit einem Blutstrahl zusammen herauszuschießen und auf des Doktors glänzendes Linoleum zu fallen, wobei es »klick« machte, was mit einem gleichmütigen »Na also!« quittiert wurde. Nein, nach Hause nehmen wollte die Mutter diese Unglücksperle nicht, das fehlte noch, aber sie hoffte von Herzen, daß die ganze Kalamität dem Kinde eine Lehre sein werde. Eine Hoffnung, der Doktor Riesenschlag sich in sachlicher Freundlichkeit anschloß, nachdem er einen Zehnmarkschein entgegengenommen und eine Warnung vor kleinen Knöpfen, Bohnen, Linsen, Erbsen, Blumensamen und Kieselsteinen an Mutter und Tochter gerichtet hatte. Besichtigen wollten sie aber seine Sammlung derartiger aus Ohren und Nasen geförderter Fremdkörper – der nun Nellys Perle auch beigefügt würde – keinesfalls.
    Eine Ohrfeige, ein scharfes Wort, sogar ein stummer Nachhauseweg wären nach Nellys Empfindungen jetzt am Platze gewesen. Statt dessen erfuhr Nelly, sie habe sich tapfer gehalten. Nicht geklagt, nicht geweint, nichts. Der Mutter schien es wohlzutun, ihre Tochter »tapfer« zu nennen. Es lag ihr nicht daran, zu erfahren, wie sie in ihrem innersten Innern war. Nelly hatte das trostlose Gefühl, daß auch der liebe Gott selbst an dem tapferen, aufrichtigen, klugen, gehorsamen und vor allem glücklichen Kind hing, das sie tagsüber abgab. Wörter wie »traurig« oder »einsam« lernt das Kind einer glücklichen Familie nicht, das dafür früh die schwereAufgabe übernimmt, seine Eltern zu schonen. Sie zu verschonen mit Unglück und Scham. Die Alltagswörter herrschen: iß und trink und nimm und bitte danke. Sehen hören riechen schmecken tasten, die gesunden fünf Sinne, die man beisammen hat. Ich glaube, daß fünf Pfund Rindfleisch eine gute Brühe geben, wenn man nicht zuviel Wasser nimmt. Alles andere ist Einbildung.
    Während ihr zum Auto gingt, fiel dir noch das Spiel ein, das Nelly Lieselotte Bornow aufzwang, lange vor ihrem späteren Zerwürfnis. Sie nannten es »Selbstverzaubern«, und es bestand darin, im hellen gelben Sand des Sonnenplatzes sich auf ein Kommando hin in ein ekles Wesen zu verwandeln: Frosch,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher