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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Schulter getroffen war; wenn aber doch ein kleiner Feuerstein als Beweisstück auf der Decke lag, erhob sich die Frage: Wer hatte ihn geworfen? Es konnte nur jemand sein, der in der Nähe war – logisch, nicht? Wer aber ist, außer uns natürlich, noch in der Nähe, Kleiner? Niemand? Langer, der ist blind, borg ihm mal deine Brille! – Blind? Glaub ich nicht. Der ist bloß ein bißchen schwer von Kapeh. Dem muß man beibringen, wer ihm fast die Bonje eingeschmissen hat.
    Lenka scheint voll und ganz zu verstehen, daß Nelly nicht weglief. Aus persönlicher Erfahrung scheint sie zu wissen, daß man gewisse Vorkommnisse erst glaubt, wenn man sie mit eigenen Augen gesehen hat. Nelly muß also mit ansehen, wie seine drei großen Brüder ihren Freund Helmut knuffend und lachend auf die dritte Akazie zutreiben, bis er mit dem Rücken gegen den Stamm steht, während sie ihn – aus Spaß natürlich, denn sie lachen ja die ganze Zeit – immerzu fragen, wer denn außer ihnen noch in der Nähe sei. Aber es ist ja nur noch sie selbst in der Nähe, Nelly, und sie hat ja den Stein nicht geschmissen, das wissen sie doch alle, und Helmut weiß es auch. Also ist es Spaß.
    Lenka sagt, nach ihrer Meinung ist es manchmal der pure Neid, wenn sie Verräter brauchen. Du wechselst einen leicht erstaunten Blick mit H., den sie registriert. Inzwischen hält einer der Brüder – das ist jetzt Kutti, der jüngere – dem Helmut die Spitze eines Stöckchens gegen die Kehle, damit er mit dem Getue aufhört. Sie wollen doch ihrem kleinen Bruder nicht zu nahe treten, er soll ihnen doch bloß den Namen sagen. Na? Na? Da hört Nelly, ungläubig, wie Helmut den Namen nennt:Es ist ihr eigener Name. Er weint dabei, sagt ihn aber: Nelly.
    Irgendwann hört jeder seinen Namen wie zum erstenmal. Und als nun das Stöckchen von seiner Kehle wegkommt, da ruft Helmut diesen Namen gleich noch mal, denn nun lautet die Frage seiner Brüder, wer ihn also mit Steinen beworfen habe? Nelly! schreit Helmut, weinend zuerst, dann aber, als seine Brüder ihm freundschaftlich in die Seite boxen – na siehst du, Kleiner! –, brüllt er unverlangt immer weiter Nelly, fünfmal, zehnmal. Beim letzten Male lacht er schon.
    Lenka schien zu wissen, wie sie lachen, wenn sie verraten haben. Gehen wir, sagtest du. Den Weg zurück, den Nelly damals heulend gerannt ist. Vorbei an dem Stückchen fensterloser Hauswand, an dem Nelly eisern Zehnerball trainierte, bis sie unschlagbar war und sich vor den Wettbewerben an Klopfstange und Kellergeländer – Klimmzug und Bauchaufschwung – drücken konnte, ohne an Ansehen zu verlieren. Vorbei, diesmal ohne Aufenthalt, an der Nummer 5, wo Nelly lange vor euch angekommen ist und nach Herrn Waldin ruft, der schließlich über seine roten Geranien herunterblickt und sich dabei den Uniformrock zuknöpft, aber gleich das Fenster wieder zuknallt, als Nelly seine Söhne bei ihm verklagen will.
    Dafür öffnete sich im Hochparterre links das Kinderzimmerfenster, Charlotte Jordan rief ihre Tochter herein und erwartete sie mit dem Ausklopfer hinter der Tür und schlug sie, ohne sie anzuhören, zum verhängnisvollen ersten und einzigen Mal in ihrem Leben (hin und wieder eine Ohrfeige, die rechnet nicht), schrie dabei ganz außer sich – während Nelly stumm blieb, wieimmer, wenn ihr Unrecht geschah –, wer ihr das Petzen beigebracht habe, wer denn bloß, wer? Ließ sich dann auf einen Stuhl fallen, brach in Tränen aus, schlug die Hände vors Gesicht und sagte weinend: Mußt du uns ausgerechnet den zum Feind machen?
    Was weiter? Die Perle.
    (Verständliche, aber vielleicht gefährliche Lust auf Zusammenhänge, vor denen H. von Anfang an warnt, weniger durch Worte als durch seinen Gesichtsausdruck. Er mißtraut allem, was sich fügt.
    Auf dem Weg zum Briefkasten, nach dem Abendbrot, saht ihr am sternklaren Himmel den Großen Wagen und den Orion, und du mußtest zugeben, daß das Gefühl, die Sternbilder bezögen sich in irgendeinem Sinn auf dich, dir noch nicht vollständig geschwunden sei. H. wollte dir einreden, eben das steigere deine Schwierigkeiten, Strukturen zu finden, in denen sich heute noch reden läßt: ernüchtert bis auf den Grund, in Verhältnissen, da Verzweifeln eher komisch wirke. – Nach Mitternacht ein dummer Anruf eines Menschen, der sich als Student vorstellt und in aufdringlichem, frechem Ton nach einem »neuen Werk« fragt. Du legtest den Hörer auf, zogst das Telefonkabel heraus, konntest aber vor Erbitterung nicht
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