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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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angenehm nach Waschpulver und Jasmin. Sie stiegen die Stufen bis zum dritten Stock hinauf, und Pedro stieß die Tür zu seinem Zimmer auf, die er nie zusperrte.
    „Eines Tages erzählst du mir, was dir passiert ist“, sagte er, als er ihn aufs Bett legte. „Ich würde das gern mal wissen. Man richtet sich nicht einfach so zugrunde.“
    „Du bist ein … Philosoph … amigo. “
    „Ja. Ich bin ein Philosoph. Ich habe bestimmt weniger Bücher gelesen als du“, fügte Pedro hinzu und warf einen Blick auf die lateinischen Autoren, die auf der Kommode aufgereiht waren, während er ihm seine Schuhe auszog. „Aber ein paar immerhin doch. Und vor allem kann ich Herzen lesen. Du dagegen kannst nur Wörter lesen.“
    Abgesehen von den Büchern gab es nicht viel in seinem kleinen Zimmer: einen Koffer, einige Kleidungsstücke, einen total veralteten Walkman und CDs – die Symphonien von Mahler. Das war der Vorteil der Musik gegenüber den Büchern, sagte er sich immer. Sie nimmt weniger Platz weg.
    „Ich liebe dich, hombre. “
    „Du bist betrunken. Gute Nacht“, sagte Pedro.
    Er knipste das Licht aus.
     
    Schon um 7 Uhr morgens erwachte Servaz vom Krach der Schlagbohrer, von lautem Hupen, von Arbeitern, die sich gegenseitig mit Stimmen anschrien, die kraftvoller waren als die von Opernsängern, und er fragte sich wieder einmal, wie es dieses Land anstellte, mit so wenig Schlaf auszukommen. Eine ganze Weile betrachtete er die Decke – genauso leblos und leer wie eine Marionette, der man die Schnüre abgeschnitten hatte. Er spürte, wie belegt seine Zunge war, was er für eine Fahne hatte. Und fürchterliche Kopfschmerzen hatte er. Er stand auf. Schleppte sich zum Bad. Ohne Eile. Niemand erwartete ihn irgendwo. Es gab nichts mehr, was in seinem Leben dringend erledigt werden musste.
    Er ließ sich das lauwarme Wasser, das aus dem Duschkopf kam, über Nacken und Schultern rinnen. Putzte sich die Zähne und zog sein letztes sauberes Hemd über. Füllte das Zahnputzglas am Wasserhahn und warf eine Tablette Aspirin hinein.
    Zehn Minuten später ging er durch den Staub, der von der Baustelle aufgewirbelt wurde, die Hauptstraße hinauf. Unter einem Portal bog er in ein enges, schattiges Gässchen, das sich den ausgedörrten Hang eines Hügels hinaufzog. Um sie herum erwachte das Dorf. Er vernahm die Geräusche durch die offenen Fenster der Häuser. Er roch den Duft von Kaffee, von Blumen, die durch den Morgen noch intensiver waren. Er hörte die Schreie von Kindern. Radios, die ohne Ende den Sieg feierten. Diese ganze Energie, die er um sich spürte, dieses ganze Leben. Er dachte an all das Gerede über die Wirtschaftskrise, an all die Journalisten, die über Dinge schrieben, von denen sie nichts verstanden, über Völker, von denen sie nichts wussten, und um die Wette Zahlen und Statistiken herunterbeteten. Und an all diese Banker, diese Ökonomen, diese raffgierigen Spekulanten, diese zwielichtigen Finanziers, diese verblendeten Politiker. Hierher hätten sie kommen müssen, um zu verstehen. Hier lebten die Menschen. Hier wollten sie leben. Arbeiten. Genießen. Nicht nur überleben.
    Nicht wie DU , sagte er sich.
    Er kletterte den Hügel hinauf. Über den Dächern des Dorfes zog ein Flugzeug, das aus Frankreich Richtung Süden flog, einen weißen Strich durch den blassblauen Himmel. Er gelangte an den Dom, der sich umgeben von einem Kiefernwald an eine Felswand schmiegte. Er ging durch den langen Säulengang, erklomm ein paar Stufen und erreichte den schattigen, kühlen Kreuzgang. Er ging um das mit grünlichem Wasser gefüllte Becken herum und setzte seinen Aufstieg über den Fußweg fort, der sich über die sanft ansteigende Flanke des Hügels zum Gipfel der Felswand schlängelte. Hoch über dem Dom und der Stadt trat er in die Sonne. Von hier aus hatte man den besten Ausblick. Ein acht Meter großer Christus öffnete seine Arme und spendete der gesamten Region bis hinauf zu den Pyrenäen seinen Segen.
    Ein herrliches Panorama … Was ihn jeden Morgen hierher führte, war indessen nicht die Aussicht – sondern die Felswand. Und der Abgrund. Die Verlockung der Tiefe. Eine mögliche Befreiung. Seit einiger Zeit liebäugelte er mit dem Gedanken, aber ein Name hielt ihn davon ab, zur Tat zu schreiten: Margot. Er wusste nur zu gut, was es bedeutete, auf diese Weise seinen Vater zu verlieren. Er dachte auch viel an David. Sobald man dem Selbstmord einmal die Tür geöffnet hat, kann man ihn nur noch schwer aus der Wohnung
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