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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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vertreiben. Er hatte lange nachgedacht und war zu dem Schluss gelangt, dass es hier geschehen würde, wenn er sich einmal dazu durchringen sollte. Es wäre die beste Methode. Ein Sturz aus dreißig Metern – so ein Selbstmordversuch konnte nicht danebengehen. Kein erbärmlicher Tod in einem Hotelzimmer. Ein hübscher Flug. In Sonne und Himmelblau. Und eine perfekte Kulisse.
    Seit Tagen – vielleicht seit Wochen – spielte er mit diesem Gedanken. Es war nur ein Gedanke. Er hatte nicht die Absicht, es zu tun. Zumindest nicht im Moment. Aber der Gedanke selbst war tröstlich. Er wusste, dass er an einer Depression litt, dass man sie behandeln konnte – aber er wollte nicht. Er hatte zu viele Tote gesehen, zu viele Menschen zu Grabe getragen, war zu oft verraten worden. Er hatte es satt. Er war müde. Er sehnte sich nach Ruhe und Vergessen, aber alles kehrte unentwegt, wieder und wieder zurück. Er hatte genug von Mariannes Gesicht in seinem Gedächtnis – und von den Gesichtern seiner Eltern und anderer … Er war überzeugt, dass sie tot war und dass man, wie bei Hirtmanns anderen Opfern, ihre Leiche nie finden würde. Sie hatte ihren Sohn retten wollen … aber sie hatte auch Servaz verraten. Trotz allem wollte er glauben, dass die Freude über ihr Wiedersehen echt gewesen war, dass sie nicht nur aus Kalkül mit ihm geschlafen hatte. Doch jedes Mal, wenn er daran dachte, was sie vor ihrem Tod durchgemacht haben musste, war dieser Gedanke genauso unerträglich wie ein ungeschützter Blick in die Sonne.
    Tief unten, sehr weit weg, sah er Pedro aus seiner Werkstatt kommen, eine winzige Gestalt in Latzhose. Einen Lappen in der Hand. Pedro hob den Kopf, um einen Blick in den Himmel zu werfen, in seine Richtung, aber er sah ihn nicht. Er sah den Kindern nach, die aufbrachen, um im Fluss zu baden.
    „Man hat mir gesagt, dass ich dich hier finden würde.“
    Die Stimme ließ ihn zusammenzucken. Er drehte sich um. Normalerweise hätte er sich gefreut, sie zu sehen. Aber an diesem Morgen wusste er nicht, ob er zufrieden, erleichtert – oder beschämt war. Sie hatte sich verändert. Sie hatte ihre Piercings entfernt, und ihre Haare hatten wieder ihre natürliche Farbe. Sie schien um einige Jahre gealtert zu sein.
    „Wie hast du mich gefunden?“
    „Anscheinend hast du mir nicht nur die Liebe zu Büchern, sondern auch dein kriminalistisches Gespür vererbt, Papa.“
    Diesen Satz hatte sie sich ganz offensichtlich zurechtgelegt, und das ließ ihn schmunzeln. Sie war braungebrannt, trug Jeans-Shorts und ein Top.
    „Ich habe mich daran erinnert, dass wir – Mama, du und ich – hier waren, als ich klein war, und dass du diesen Ort sehr mochtest. Aber es ist nicht der erste, wo ich nach dir suche … Oh nein … Ich suche schon über eine Woche nach dir.“
    Sie machte zwei Schritte vor und beugte sich vor – und wich sogleich wieder zurück.
    „Wow! Tolle Aussicht … aber wie tief das ist!“
    Sie sah nicht, wie er vor Scham rot anlief und sein Magen sich zusammenkrampfte.
     
    Sie unterhielten sich. In den folgenden Tagen und Nächten redeten sie. Tranken. Redeten. Rauchten, lachten, redeten – und tanzten sogar. Er lernte seine Tochter kennen, und ihm wurde klar, dass man nichts über die anderen wusste, und am wenigsten über seine eigenen Kinder. Elias war auch da, dieser stille, hochgewachsene junge Mann mit einer Strähne, die sein halbes Gesicht verdeckte. Servaz fand ihn sympathisch. Manchmal leistete er ihnen Gesellschaft; manchmal ließ er sie allein. Es gab wunderbare Tage, an denen sie einander so nahe waren, wie sie es noch nie gewesen waren, und andere, an denen sie sich stritten. Wie in der Nacht, in der sie ihn sturzbetrunken antraf, nachdem sie den Abend mit Elias verbracht hatte. Danach trank er weniger. Dann überhaupt nicht mehr. Sie schienen viel Zeit zu haben. Der Beginn des neuen Schuljahres lag in weiter Ferne, und er fragte sich, ob sie vorgehabt hatte, während der Sommerferien zu arbeiten. Schließlich fragte er sie, wann sie abreisen würden.
    „Wenn du so weit bist“, antwortete sie. „Du fährst mit.“
    Er stellte sie Pedro und anderen vor, und sie bildeten schließlich eine lustige kleine Gruppe. Elias wurde etwas gesprächiger. Sie gingen spät ins Bett, aber er merkte, dass er morgens mit mehr Elan aufstand. Und dass er nicht mehr ausgestreckt auf seinem Bett liegen blieb, um die Decke anzustarren. Sie hatten ein Zimmer ein Stockwerk tiefer genommen, das wie seines auf den Innenhof
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