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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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Gedanken bin ich schon in Hamburg. Endlich raus aus München, das an mir klebt wie Leim. Hamburg ist Freiheit. Hamburg ist ein Zeichen in Richtung Zukunft!
    Ich packe eine kleine Tasche. Viel besitze ich ohnehin nicht: Jeans, T-Shirts, ein paar Slips und meine vier Käthe-Kruse-Puppen. Plötzlich überfällt mich Angst: ganz allein in dieser fremden Stadt! Ich fürchte mich vor dem Theater, vor den Menschen, vor dem Alleinsein, vor der Einsamkeit, ich fürchte mich vor der Angst. Werde ich es schaffen, mich zwischen routinierten älteren Schauspielern zu behaupten?Ich bin zwanzig Jahre alt, habe keine Theatererfahrung. Wie werden die Menschen zu mir sein? Wird Hamburg kalt sein?
    Im Morgengrauen fährt der Zug im Hamburger Hauptbahnhof ein. Ich habe die ganze Nacht über nicht geschlafen, bin am Fenster gestanden, habe eine nach der anderen geraucht und die Menschen auf den nächtlichen Bahnsteigen betrachtet. Wie wird der Regisseur sein, die Schauspieler? Wenn einer unfreundlich zu mir ist, dann hau ich ab. Ich muss nicht in Hamburg bleiben, ich kann zurück in die Schule, wenn ich will.
    Die Tür wird geöffnet, ich springe aus dem Zug – steige wieder ein und springe wieder auf den Bahnsteig. Ich muss das tun. Eine dunkelhaarige junge Frau läuft auf mich zu. Sie lacht mich an: »Pola Kinski?« Ich nicke. »Ich bin Marlen, ich arbeite am Theater. Zuerst fahre ich dich zu deinem Zimmer, später dann stelle ich dich dem Intendanten vor und bringe dich zur Probe. Du wohnst bei einem Paar in Eppendorf. Das ist eine schöne Gegend. Ich kann dich morgens mit dem Auto abholen, ich wohne ein Stück weiter gegenüber der Uniklinik.« Sie überschüttet mich mit ihrer Freundlichkeit, und ich bin froh, dass sie mich abgeholt hat.
    Wir treten durch den Hauptausgang aus dem Bahnhof: »Das ist das Theater!« Genau gegenüber strahlt ein weißes Schlösschen. Schauspielhaus steht auf der Fassade. Wir laufen dran vorbei. Ihr Auto wartet vor dem Seiteneingang. An die Wände des Theaters sind Namen gesprüht: Jürgen Prochnow, Dieter Prochnow, Pola Kinski. Ich erschrecke, ich fühle keine Verbindung zu diesem Namen. Er hat nichts mit mir zu tun. Meine Begleiterin grinst: »Werbung!«
    Auf der Fahrt nach Eppendorf redet Marlen ununterbrochen. Ich höre nicht zu, kann mich auf nichts konzentrieren, Hamburg zieht weiß und kalt an mir vorüber. In das sogenannte Zimmer, in dem ich wohnen soll, passt nur ein Bett. Man muss von der Tür aus hineinfallen. Größer ist die Kammer nicht. Das Fenster über dem Kopfteil ist eher ein Sehschlitz. Ich schmecke salzige Tränen in meinem Mund. Hier werde ich bestimmt nicht bleiben. Ich stelle meine Tasche aufs Bett und gebe Marlen ein Zeichen, dass ich gehen will.
    »Das tut mir leid! Ich werde mich um etwas anderes bemühen!«, entschuldigt sie sich im Treppenhaus.
    Wir fahren zum Theater. Marlen führt mich die Treppe hoch zur Intendanz. Manchmal laufe ich zwei Stufen vor und wieder zurück, als würde es dazugehören. Sie sieht mich fragend an. Ich übergehe es.
    Der Intendant Ivan Nagel ist ein sehr großer, stolzer Mann. Er empfängt mich offen und freundlich. Aber die Person, die er meint, hat nichts mit mir zu tun – ich fühle mich fremd. Ich lächle zurück und verabschiede mich zur ersten Probe. Es ist fast neun Uhr.
    Flure ohne Fenster, es riecht nach Holz, Lack und Beize. Ich mag diesen Geruch. Im Probenraum sind Regisseur, Dramaturg, Schauspieler und andere Leute versammelt. Man begrüßt mich überschwänglich. Ich komme mir vor wie ein Kind auf einem Familienfest. Ich werde begafft, begutachtet, gebe artig jedem die Hand.
    Heising erklärt mir die Rolle. Die junge Frau ist die ganze Zeit auf der Bühne, drückt mit ihrem Gesicht und Körper aus, was sie sagen will, was sie beschäftigt. Auf alles, was gesprochen wird, auf jedes Geschehen reagiert sie, aber nie mit Worten. Das Mädchen ist stumm. Es wurde als Kind vom Vater vergewaltigt. Das Mädchen schläft abwechselnd mit seinen Brüdern. Es wird auf den Strich geschickt. Es wird verkauft.
    Das Stück beginnt mit dem Auftritt der drei Geschwister. Die Bühne ist nur vierzig Zentimeter hoch, sie stellt eine Fabrikhalle dar. Die Zuschauer sitzen in L-Form darum herum. Das soll Intimität herstellen. Die Geschwister stehen einen Moment im Neonlicht der aufgerissenen doppelten Eisentür. Dann stürzen sie hinein, packen ihre Habseligkeitenaus der hölzernen Schubkarre und richten sich ein. Ich soll mir eine Handbreit vor der ersten
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