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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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sie Mitleid mit mir. Einmal sagt sie, ich komme ihr vor wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Jeden Abend steht ein Topf mit Deckel auf der Heizung. Sie hat zu Hause für mich gekocht, damit ich etwas Warmes in den Magen bekomme. Im Winter strickt sie mir zwei warme Mützen. Wenn sie mich umarmt, spüre ich manchmal etwas.
    Seit mehreren Tagen liegen Briefe eines Unbekannten beim Pförtner: Er lädt mich zu einer Art Ratespiel ein. Er, der Unbekannte, wird jeden Abend in einem neuen Kostüm auf einem anderen Platz im Publikum sitzen, und ich soll ihn finden. Das beunruhigt mich. Seit ich mein Schweigen gebrochen habe, halte ich es für möglich, dass mich mein Vater aus Rache umbringen lässt. Ich suche, während ich spiele, die halbdunklen Gesichter im Zuschauerraum ab, immer wieder, aber ich kann niemanden entdecken, der passen würde. Das steigert meine Angst zu Panik. Vielleicht will er mich erschießen! Ich lasse die Zuschauer keine Sekunde aus den Augen. Eines Abends fällt mein Blick auf eine Gestalt in der ersten Reihe. Übereinandergeschlagene lange dünne Hosenbeine, darüber halten zwei Hände eine aufgeblätterteTageszeitung. Durch ein Loch sehe ich ein Auge auf mich gerichtet. Ich kann mich nicht vom Fleck bewegen. Da sinkt die Zeitung, und ein Männergesicht lacht mich an. Fast hätte ich vor Angst in die Hose gepinkelt. Dann muss auch ich lachen. Dieses Männergesicht wartet am Bühnenausgang auf mich. Ein großer dünner Mann im Anzug. Er sieht irgendwie schräg aus und sehr sympathisch. »Ich bin Martin Kippenberger!«, stellt er sich vor und lacht die ganze Zeit. Wahrscheinlich belustigt ihn mein verschrecktes Gesicht. Er lädt mich oft ein, auf Vernissagen, zum Essen. Aber weil ich so scheu bin und zurückgezogen lebe, verlieren wir uns wieder aus den Augen.
    Die U-Bahnen sind mit riesigen Plakaten tapeziert, auf denen die beiden Brüder und ihre Schwester aus dem Theaterstück abgebildet sind. Es hat nichts mit mir zu tun. Ich kann mich nicht in Verbindung bringen mit dem Mädchen auf den Fotos. Ich spüre mich nicht dabei. Ständig sprechen mich Menschen auf der Straße an: »Bist du nicht das Mädchen aus … !« Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Die Presse stürzt sich auf mich. Täglich eine andere Zeitung. Ich versuche mich dem Rummel zu entziehen, aber es gelingt mir nicht immer. Ich werde überschwemmt mit Fanpost. Ich habe das Gefühl, dass sie nicht mich meinen, und antworte nicht, obwohl ich weiß, dass ich die Leute verletze.
    Meine Mutter kommt zu Besuch. Sie sitzt im Zuschauerraum und macht ein stolzes Muttergesicht. Als ich mich nach der Vorstellung bei ihr beklage, wie schlecht es mir geht, antwortet sie: »Ach, das bildest du dir ein! Du machst Theater!«
    Mittlerweile spielen wir alle vier Teile an verschiedenen Abenden. Der Erfolg lässt nicht nach. Das Theater ist voll. Ivan Nagel holt mich zu sich in sein Büro und bietet mir einen festen Vertrag an. Er hat schon mit der Schule gesprochen. Ich muss nicht zurück. Sie werden mir die Bühnenreife vorzeitig ausstellen. Ich frage ihn, ob er mich wegen meines Namens engagieren will und weil mein Vater so bekannt ist.
    »Dein Vater schreckt mich ab«, bekomme ich zur Antwort. »Ich möchte dich fest an unser Theater binden, weil du gut bist.« In diesem Augenblick spüre ich Stolz, noch mehr Stolz als an dem Tag, als ich in die Otto-Falckenberg-Schule aufgenommen wurde. Aber das Glücksgefühl hält nicht lange an, denn ich weiß plötzlich nicht mehr, wie ich aus der Intendanz kommen soll. Zwei Türen führen nach draußen, und ich bin mir sicher: Welche ich auch wähle, mir wird etwas passieren. Ich prüfe, wohin das Fenster führt. Aber das Flachdach darunter ist zu weit weg. Zum Glück kommt in diesem Moment der Dramaturg Urs Jenny herein, um etwas abzugeben. Ich hake mich bei ihm unter und verlasse gemeinsam mit ihm den Raum. Ohne dass er es weiß, hat er für mich die Entscheidung getroffen, und ich bin unschuldig und muss nicht bestraft werden.
    Während ich jeden Abend mehr oder weniger meine eigene Lebensgeschichte spiele, probe ich tagsüber das nächste Stück. Ich versuche mich mit der Arbeit abzulenken und mit zahlreichen Liebesaffären. Ich stürze mich in eine nach der anderen und bin danach immer nur noch trauriger.
    Irgendwann werden die Schuldgefühle vollends unerträglich. Ich renne zu einem Pfarrer, erhoffe mir von ihm Vergebung. Ich erzähle Nonnen in ihrem Kloster bei Kaffee und Kuchen
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