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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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Sprechen, Singen, Tanzen, Improvisation, Fechten, Rollenstudium – an manchen Tagen bis 22 Uhr.
    Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mir nachts in einem Club hinter der Bar, und der gute Onxganx unterstützt mich mit 200 Mark im Monat.
    Ein halbes Jahr später kommt er mit seiner Frau nach München. Wir erwarten ihn in einem Restaurant: Biggi, meine Schwester Nastja, Freunde. Er begrüßt alle Anwesenden im Raum, umarmt sie, küsst sie. Über mich steigt er hinweg, er kennt mich nicht.
    Nach München ist er gekommen, weil sich seine Frau in einem Krankenhaus behandeln lässt. Er wohnt während dieser Zeit in der Wohnung einer Bekannten. Die Sekretärin der Schauspielschule richtet mir aus, dass mein Vater angerufen hat, und gibt mir einen Zettel mit der Adresse, zu der ich kommen soll. Wie ich zu ihm stehe, weiß er jetzt, deshalb traue ich mir diesen Besuch zu.
    Er öffnet die Tür, zieht mich in den einzigen Raum, legt sich aufs Bett und befiehlt mir, mein T-Shirt hochzuziehen. Ich mache es. Dann wache ich auf. Ich suche das Telefon und wähle die Nummer der Taxizentrale. »Du bleibst hier!«
    »Nein! Ich fahre!«
    »Du bleibst!«
    »Nein!«
    Ich nenne der Frau am anderen Ende der Leitung Straße und Hausnummer und gehe zur Tür. Er sieht mich nicht an, er sagt mir nicht auf Wiedersehen.

D ie Tage und Abende sind angefüllt mit dem umfangreichen Unterricht, der uns aufs Theater vorbereiten soll. In den Nächten muss ich arbeiten, denn weder mein Vater noch Heinrich oder meine Mutter geben mir Geld. Ich verkaufe die letzten Luxusstücke, die noch übrig geblieben sind und die ich eigentlich behalten wollte. Als ich einmal nichts zu essen habe, biete ich Heinrich meine Olivetti-Reiseschreibmaschine für 50,– DM an. Er nimmt die Schreibmaschine und drückt mir den Schein in die Hand.
    Zurzeit wohne ich bei einem Maler, der sich in mich verliebt hat. Er räumt Fächer in seinem Schrank leer für meine Kleider. Jeden Morgen um acht Uhr mache ich mich von seiner Wohnung aus auf zum Tanzunterricht.
    Ich besuche die Schauspielschule jetzt seit einem Dreivierteljahr. Die Welt um mich herum ist immer noch fremd, aber ich scheine mich an den Zustand zu gewöhnen. Ich schwimme durch eine lange dunkle Höhle. Vielleicht gibt es am Ende einen Ausgang. Außerdem beruhigt mich der Gedanke, dass ich mich jederzeit umbringen kann, wenn ich es nicht mehr aushalte.
    Wir bekommen neue Rollenlehrer, denn wir müssen Szenen für die Zwischenprüfung einstudieren. Ich habe das große Glück, dass sich ein Regisseur namens Hanskarl Zeiser für mich interessiert. Er erzählt mir eine Geschichte, von der ich denke, er hat sie aus der Bild -Zeitung. Am Ende sagt er: »Die junge Frau ist Gretchen aus Faust .« Ich schaue ihn ungläubig an, dann denke ich nach. Es stimmt! Er hat recht. Gretchen ist ein ganz normales Mädchen, sinnlich und frech, mit ganz normalen Gefühlen, Sehnsüchten, Lüsten.
    Die Arbeit mit Hanskarl Zeiser an den Faust -Szenen ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Es ist, als würden wir uns schon immer kennen, als hätten wir immer schon zusammengearbeitet. Er deutet an, ich verstehe, was er meint, und setze es um. Manchmal wird die Wand der Glaskugel, in der ich lebe, so dünn, dass ich sie kaum spüre. Die Vorführung im Rahmen der Zwischenprüfung bleibt lange Gesprächsthema in der Schule. Im Zuschauerraum sitzen auch einige Regisseure.
    Kurze Zeit darauf teilt mir meine Mutter mit, dass jemand aus Hamburg für mich angerufen hat und sich morgen wieder melden wird. Der Mann am Telefon, der tags darauf tatsächlich noch einmal anruft, ist der Theaterregisseur Ulrich Heising. Er erzählt mir, dass er am Schauspielhaus in Hamburg ein holländisches Stück über drei Geschwister inszenieren wird. Vielmehr sind es vier Stücke, die wie ein Vierteiler im Fernsehen an verschiedenen Abenden aufgeführt werden. Die beiden Brüder werden von Jürgen und Dieter Prochnow dargestellt. Ich soll deren jüngere Schwester sein. Er hat mein Gretchen gesehen und möchte unbedingt, dass ich die weibliche Hauptrolle in seinem Stück in Hamburg spiele.
    Ich springe in die Luft vor Freude und sage sofort zu. Die Schule beurlaubt mich für ein Jahr. Sobald alle vier Teile zu Ende gespielt sind, muss ich zurück nach München, um das Studium abzuschließen.
    In den Wochen bis zur Abreise kann ich mich im Unterricht kaum mehr konzentrieren. Ich fühle mich wie eine aufgezogene Puppe, die tut, was man von ihr verlangt, aber in meinen
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