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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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noch: Ich muss zu meiner Mama und zu Heinrich aufs Land.
    Meine Mutter und Heinrich verbringen Ferien und Wochenenden in einem gepachteten zweihundert Jahre alten Bauernhaus im Chiemgau. Es liegt auf einer Anhöhe, ist im Halbkreis von Wäldern umrahmt. Nach vorne öffnet sich der Blick auf einen Moorsee zu Füßen des Hügels. Man muss auf einer Privatstraße durch den Wald fahren, um dorthin zugelangen. Die Äpfel fallen einem von den Bäumen in den Mund, und die Rehe kommen bis ans Haus. Die Wälder sind voller Steinpilze, Pfifferlinge, Erdbeeren, Himbeeren, Blaubeeren. Ich habe sie einige Male durchstreift, habe mir an einem der stillen versteckten Seen die Kleider ausgezogen und bin nackt in dem glasklaren Wasser geschwommen. Auch ein Paradies. Aber jetzt habe ich kaum eine Erinnerung daran.
    Am Bahnhof steige ich aus dem Bummelzug und nehme ein Taxi zum Bauernhof. Ich stürze ins Haus, in die Stube, platze in die traute Runde: Heinrich, meine Mutter und meine Tanten sitzen um den großen Tisch. Sie schauen mich an, aber es kommen weder zusammenhängende Sätze noch verständliche Wörter aus meinem Mund.
    Dann kann ich nicht mehr. Hemmungslos schluchzend breche ich zusammen. Heinrich nimmt mich am Arm und hilft mir auf einen Stuhl. Er spricht ruhig und behutsam mit mir.
    Plötzlich löst sich die Blockade. Schmerz, Todesangst, Schuldgefühle brechen aus mir heraus, nichts kann sie aufhalten. Zum ersten Mal schreie ich aus mir heraus, was er mir angetan hat, vierzehn Jahre lang. Als ich fünf war, hat er begonnen, mich auf eine Weise zu berühren, die mir unangenehm war, mir falsch und böse vorkam. Heute bin ich neunzehn.
    Alle sind bestürzt, schweigen betreten. Nur meine Mutter sagt: »Ich hab es mir ja schon immer gedacht. Du kamst jedes Mal so verstört aus Rom.«
    Für den Moment erleichtert mich das Sprechen. Aber dann holen mich Todesangst und Schuldgefühle wieder ein. Heinrich hört mir mit unerschöpflicher Geduld zu, jeden Tag, stundenlang. Egal, womit er gerade beschäftigt ist, wenn ich zitternd vor ihm stehe, widmet er sich mir und meiner Verzweiflung. Ich wundere mich über seine Zuwendung, abersie rettet mich vor dem Tod. Dafür und dass er mir klarzumachen versucht, dass ich unschuldig bin, bin ich ihm unendlich dankbar – auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nicht viel nützt.
    Auch die Wochen auf dem Land erlebe ich als Hölle. Ich bin eingeschlossen in einer durchsichtigen Masse, empfinde weder Wärme noch Kälte, lebe von der ganzen Welt getrennt. Nach wie vor bekomme ich kaum Luft. Spricht mich jemand an, sehe ich die Worte schon vorher wie an einem Band aus seinem Mund kommen. Steht der Mond am Nachthimmel, habe ich Angst, seine Kälte würde mich töten. Wenn eine Katze sich auf einen Vogel stürzt, spüre ich die Krallen. Ich bin schuld an allem, was um mich passiert. Oft zieht es mich zum Holzkreuz am Waldrand. Ich muss mich hinknien, und wenn ich einen schlechten Gedanken dabei denke, muss ich immer wieder zurückgehen, bis ich erlöst bin. Ich bin verrückt und muss so tun, als sei ich normal.
    Irgendwann suche ich das, was noch übrig ist von mir, mit all meiner Kraft zusammen, fahre nach München zur Otto-Falckenberg-Schule und frage, ob sie mich wieder aufnehmen. Obwohl ich damals einfach abgehauen bin, sagen sie ja. Ich ziehe zu meiner Mutter und Heinrich in die Wohnung und schlafe auf dem Sofa.
    Dann ruft er aus Rom an. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Er wimmert ins Telefon wie ein Klageweib: »Ich bin so allein! Geneviève hat mich für zwei Wochen verlassen! Komm zu mir! Du musst zu mir kommen! Aber wasch dich die nächsten Tage nicht!« Mir fällt der Hörer aus der Hand. »Hast du verstanden!« Ich greife den Hörer mit zwei Fingern, als wäre er besudelt von all dem Dreck. »Hörst du mich? Du musst kommen!«
    »Ja, ja …«, stottere ich, »aber ich friere, ich brauche einen Mantel. Schick mir 1000 Mark.«
    »Natürlich! Sofort! Komm schnell!«
    Ich lege auf.
    Kaum ist das Geld angekommen, schreibe ich einen Brief an ihn: »Mir geht es sehr schlecht. Ich bin am Ende. Ich werde Dich nur noch als Tochter treffen, nie mehr als Sexualobjekt. Du wirst mich nie mehr anfassen. Nie mehr!«
    Er antwortet nicht.
    Auf die Dauer ist das Sofa im Wohnzimmer von Mutter und Stiefvater keine Lösung. So ziehe ich mit einer Plastiktüte, in die ich immer frische Wäsche packe, durch München und schlafe bei verschiedenen Freunden auf dem Boden oder auf der Couch. In der Schule übe ich
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