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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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Serpentinen ins Tal holpert. Ich werde diese Menschen nie vergessen. Paolo sieht mich an, schüttelt lachend den Kopf: »Giacomo ist sechzehn!« Dann drückt er wie ein Bruder meinen Schenkel. Reggio di Calabria ist unser nächstes Ziel. Wir werden dort das Schiff nach Sizilien nehmen.
    Die Bilder der letzten Tage wirbeln durch meinen Kopf, ich schlafe ein und komme in der schlimmsten Mittagshitze in meinen Klamotten schwimmend und völlig verwirrt zu mir.
    Die Küstenstraßen sind eng und kurvig und wirken, als wären sie mit Sand und Spucke an den Berg geklebt. Unser Fahrer strapaziert den Bus und nimmt auch in den spitzesten Kehren nicht den Fuß vom Gas. Mir wird schlecht vor Angst, und ich schreie Paolo an, langsamer zu fahren. Hansschnauzt mich an, ich solle mich nicht so hysterisch aufführen. Ich schnauze zurück, wir streiten ununterbrochen während der Fahrt. Irgendwann hält Paolo an, schmeißt uns raus und brüllt, wir sollen uns gefälligst zusammenreißen! Die Hitze, die Enge im Bus – bei allen liegen die Nerven blank, alle schreien durcheinander und einander an. Erst nachdem Paolo die Tagesration verteilt hat, zwei belegte Baguettebrötchen, ein Getränk und vier Zigaretten für jeden, beruhigen sich die Gemüter, und wir können weiterfahren.
    Das Stück der argentinischen Truppe wird ein großer Erfolg in Palermo. Jeden Abend strömen Trauben von Menschen ins Theater und hängen nach der Vorstellung an den Lippen der Schauspieler, als würden sie von ihnen Erlösung erhoffen. Nur ich fühle mich fehl am Platz und wie ein Groupie. Was wird aus mir, wenn diese Reise vorbei ist? Soll ich mit der Truppe ziehen? Aber die wissen selbst nicht, wie es mit ihnen weitergeht. Außerdem verstehe ich so wenig von ihren Idealen, ihren Zielen, ihrem Lebensgefühl. Ihre Welt ist mir verschlossen, fremd. Es war eine naive Idee von mir, mich einer marxistischen Theatergruppe anzuschließen. Was soll ich machen, wo soll ich hin? Nur eines weiß ich: Ich muss zu meinem Vater. Ich habe ihm geschworen, zurückzukommen. Er wartet auf mich.
    Das zweiwöchige Gastspiel ist zu Ende. Es wird abgebaut und eingepackt. Morgen machen sich alle auf den Weg nach Norden, die Truppe ist noch in andere europäische Städte eingeladen. Nur für mich gibt es immer noch kein Zeichen in Richtung Zukunft.
    Auf der Fahrt von Reggio zurück nach Rom spreche ich kaum ein Wort. Paolo macht sich über mich lustig: »Pola, hat es dir die Sprache verschlagen? Du redest doch sonst so viel!«
    Ich steige an der Ausfahrt Rom Nord aus dem Bus – es ist dieselbe Raststätte, an der mich vor knapp drei Wochenmein Vater abgeholt hat. Mit den anderen verabrede ich, dass ich ihnen nach Mailand hinterherreisen werde. Die Truppe wird dort an einem Straßentheaterfestival teilnehmen.
    Auf der Messingtafel an der Hauswand nur Knöpfe, keine Namen. Aber ich weiß, wo ich klingeln muss. »Pronto!«, schnarrt mein Vater wie immer gereizt ins Mikrofon der Gegensprechanlage.
    »Ich bin es! Pola!«
    »Ah, mein Püppchen!«
    Sechs Stockwerke steige ich hoch. Jede Stufe bereitet mir mehr Schmerzen. Wie wird er gelaunt sein? Ob Geneviève jetzt freundlicher zu mir ist? Werden sie wieder Tag und Nacht streiten, sich anbrüllen? Was erwartet mich?
    Er steht in der Tür, zieht mich ins Innere. Seine Frau läuft auf mich zu, umarmt mich. Ich wundere mich.
    Geneviève hat gekocht, auch diesmal gibt es allerlei asiatische Speisen. Danach müssen wir unbedingt noch alle drei in die Stadt. Mein Vater und seine Frau nehmen den Fahrstuhl, ich laufe zu Fuß. Die letzten Stufen muss ich dreimal rauf-und runterspringen. Sie erwarten mich schon ungeduldig. Er steuert auf ein kleines Auto zu und strahlt: »Heute wird Geneviève fahren!« Ich wundere mich ein zweites Mal. Die Kirche in der Via Appia haben sie gegen eine römische Stadtwohnung getauscht, die Luxuslimousinen gegen einen Minicooper. Dieses Auto sieht albern aus, und innen ist es noch viel enger als im Ferrari. Ich muss mich auf der Rückbank einklappen wie ein Taschenmesser. Am Steuer richtet sich die Gattin ein, daneben nimmt der Fahrlehrer Platz. Ich freue mich schon auf diese Autofahrt.
    Sie startet, das erste Drama: Sie würgt den Motor ab. Der Wachhund bellt: »Bist du bekloppt?!« Sie verdreht die Augen und versucht aufs Neue, den Wagen anzulassen. Es klappt, zum Glück! Sie legt den ersten Gang ein, er meckert,sie würde nicht weich genug schalten, sie stöhnt. Sie fährt an, er treibt sie an, sie soll mehr Gas
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