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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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der Luft lag. Die Wege führten vom einen Ende der Stadt zum anderen, überall sah man die Kinder, vernahm man ihre Worte, aber kaum ein Lachen. Sie kletterten über die Sperrmüllberge, die es einmal in der Woche zu besteigen gab; Kinderbetten, Kinderstühle, ja sogar Kinderschuhe, die wie abgestreift an den Bordsteinen standen und darauf warteten, von großen lauten Lastwägen abgeholt zu werden. Schuhe wurden getauscht, unter die Arme geklemmt, zusammengebunden über die Schultern geworfen. Die alten Männer, die kopfschüttelnd an den Wegrändern standen und ihnen zusahen, es ebenso spürten wie die Kinder selbst, tief bis ins Mark, und es doch nicht beschreiben konnten, ebenso wenig wie die Jungen und Mädchen, die an ihnen vorbeiliefen.
    Die Kinder suchten diesen einen Sommer lang jene Karte, selbst unten in den verbotenen Bachausläufen, die weit hinter der Stadt zum Grünen See führten. Dort hatte man vor vielen Jahren den Teufel gesehen, und unheimliche Schatten mit langen Fingern, lang und dünn wie Spinnenbeine. Düstere Erzählungen, nachts, wenn alle schliefen. Kinderland nannten sie diesen Ort, dort wo es fette Ratten gab und der Bach das Waldstück nährte. Einige der mutigsten Kinder waren dort gewesen, und einige von ihnen hatten von den kleinen Schuhen erzählt, die an den Bäumen hingen, tief im Wald. An den kahlen Ästen, geradeso wie an dürren Fingern. Vermutlich war Sara Ascher immer schon die Anführerin ihrer Straße gewesen. Alfons Bloch wohnte auch dort, ebenso wie Robert Erber und das ›Skelett‹ Christoph Maier.
    Über jene Straße, in der sie alle wohnten, sagte man, dort hätten immer nur bösartige und dumme Menschen gelebt. Der Asphalt rissig, die Bordsteinkanten abgetreten. In den Wintermonaten gab es dort so gut wie kein Wasser, da alle Leitungen zugefroren waren. Zum Waschen mussten die Kinder zur gutmütigen Tante Winnie gehen. Tante Winnie wohnte einige Straßen weiter und war schon öfters in der Klapsmühle gewesen, oben in München, dort wo sie alle Verrückten hinbrachten. Die Wintertraurigkeit hatte ihr ein Rasiermesser geschenkt, mit dem sie versucht hatte, sich umzubringen. Aber das war lange her, die Gräber längst wieder geschlossen. Dennoch blieb sie für all die anderen die Klapsmühlen-Winnie, die niemals auf dem Friedhof Ruhe finden würde. Hinter den Kirchenmauern würde man sie verscharren, wenn es einmal so weit wäre.
    Sara, Alfons, Robert und Christoph waren 1973 dreizehn Jahre alt, ihre Elternhäuser lagen nur einige Meter voneinander entfernt. Von ihren Zimmern aus spannten sie Blechdosen-Telefone über den Himmel und zählten die Sternschnuppen in den Sommernächten. Wie die meisten Kinder damals waren auch sie unsichtbare Kinder, ihre Eltern einfach nur Erwachsene, die scheinbar zufällig in den gleichen Häusern wohnten und nicht allzu viel von ihren Kinder spürten.
    Alfons, Robert, Christoph – sie alle waren in Sara verliebt, das hübsche Mädchen mit den langen blonden Zöpfen und den abgetragenen Kleidern voller Flicken. Am schlimmsten hatte es Christoph erwischt. Er war sicher, Sara eines Tages zu heiraten – jedenfalls in seinen Träumen. Christoph war so dünn, dass man glaubte, er könne jeden Moment zerbrechen. Deshalb nannten ihn die Leute in der Stadt auch den Knochenjungen oder einfach nur Skelett und sagten Sätze wie
Dir geben deine Eltern wohl nichts zu essen, was?
oder
Hast du etwa die Schwindsucht, meine Junge? Scher dich weg, aber schnell
.
    Die Erwachsenen streunten herum, standen gesenkten Blickes an den Ecken, rauchten und tranken Bier aus schmalen grünen Flaschen, sprachen leise. Die Vorgärten gepflegt, zur Straße hin ragten die offenen Münder der Garagen. Wie Arterien eines Sterbenden die Straßengabelungen und die Kreuzungen, an Sonntagen schmutzig und leer, allein die Kinder sah man dort. Eine Kleinstadt, in der das Leben kränkelte und nach Luft schnappte. An Sommertagen manchmal flirrende Theatervorstellungen darüber, was das Leben sein könnte, aber hier niemals sein würde. Denn sobald die Abenddämmerung einsetzte, verschwanden die Erwachsenen in ihren Häusern wie Vampire in ihren Särgen. Allein die Schatten der umherziehenden Kinder, die sich aus ihren Zimmern geschlichen hatten, um zwischen den Straßenlampen Kiesel zu werfen, widerlegten den Anschein, hier wohnten nur Tote.
    Weit oben das unheimliche Haus auf dem Grabhügel, die Fenster spärlich beleuchtet.
    »Er sitzt wahrscheinlich auf seiner blöden
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