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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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Grabhügel. Dass er dort alle umgebracht hätte und völlig verrückt sei. So verrückt, dass er mit den Leuten in der Stadt kein Wort sprach und kleine gelbe Einkaufszettel auf die Theke legte, wenn er etwas brauchte. Hin und wieder versammelten sich Männer in Hinterzimmern und beschlossen, ihm das Reden beizubringen, aber sobald sie sich dem großen Feld näherten, auf dem im Sommer so viel Löwenzahn blühte, dass es die Einheimischen Löwenzahnfeld nannten, verließ sie der Mut. Arik konnte es sich nicht anders erklären – hier war ein Ort, an dem die Erinnerungen eine andere Färbung bekamen. Sich die Gedanken an das Verlorene schneller drehten und wendeten. Hier war es gut, an Karla zu denken.
     
    Der Knochenmann trat aus dem Haus, blieb schließlich im Türrahmen stehen. Seine weißen Haare wie Schneeschlangen, die sich ungezügelt im Sommerwind bewegten. Er lächelte, während Donovan
Hurdy-Gurdy-Man
aus dem Küchenradio sang.
    Natürlich wusste er, dass Arik hier war. Schließlich konnte er den Regen spüren und den Jungen auch. Geradeso, wie er alle Menschen spüren konnte – selbst jene, die längst tot waren.
    Dort, inmitten des Löwenzahnfeldes.

Auf der Suche nach der Hexe
Sommer 1973
     
    Murrs Zigarettenläden säumten die Straßen der Stadt. Ein Kometenschweif am tiefblauen Nachthimmel, darüber in geschwungenen roten Buchstaben:
Murrs beste Virginia Zigaretten
. Alle kannten dieses Bild auf der Verpackung, und hinter dem Zellophan waren Sammelkarten verborgen. Alte Zigarrenkisten voll damit, verstreut in jedem Haus, unter Betten versteckt. Ein jedes Kind wollte natürlich die Karte mit der Hexe besitzen, von der es hieß, sie wäre wie der Haupttreffer bei der Losbude. Wer diese Karte besaß, würde ein ganzes Jahr lang jeden Tag fünf Schachteln von Murrs Zigaretten umsonst bekommen. Würde man sie verkaufen, konnte man so jeden Tag zehn Mark verdienen, ohne im Herbst Kartoffeln oder Steckrüben ernten zu müssen – für Kinder eine Vorstellung wie über Nacht Millionär zu werden. Selbst der siebenjährige Simon Nagel, von dem es hieß, er hätte nicht alle Tassen im Schrank, fing plötzlich an, inbrünstig zu beten. Er betete jeden Morgen und jeden Abend, betete zu Gott und allen Heiligen, er möge doch bitte die Karte finden, so schnell es irgend ginge. Dann wäre er endlich nicht mehr der einfältige Junge, der immer noch Windelhosen unter der Jeans tragen musste, dann wäre er endlich der König der Straßen. Geradeso wie in seinen Träumen, die so verheißungsvoll glänzten wie falsches Gold.
    Jeder in dieser Stadt rauchte Murrs Zigaretten, in den kleinen Läden waren die anderen Sorten längst verschwunden. Außerdem war es eine Zeit, in der die meisten Leute – zumindest die meisten Männer – rauchten, und dem Gerücht, dass man davon Lungenkrebs bekommen könnte, kaum Glauben schenkten. Es war etwas, was die Leute in der Großstadt glauben mochten. Außerdem wollte es sich niemand mit Murr verderben, der jeden Morgen zwischen sechs und sieben durch die Stadt stolzierte, als würde sie ihm gehören. Und vielleicht war es auch so. Die meisten Männer hier arbeiteten schließlich in der Fabrik, von der man zum Grabhügel blicken konnte, und wenn sie nicht dort arbeiteten, gehörte ihnen ein kleiner Tabakladen, oder sie fuhren in alle Windrichtungen Zigarettenstangen aus, mit ihren alten, klapprigen Automobilen.
     
    Im Sommer 1973 suchten alle Kinder nach der geheimnisvollen Hexen-Sammelkarte. Die Fischer-Geschwister hatten eines Tages damit angefangen, und bereits am nächsten Tag sah man Jungen und Mädchen in dreckigen Hosen und Kleidern die Gassen durchströmen und die Mülltonnen ausleeren, sogar in rostigen Dachrinnen kramten sie. Hätte man sie gefragt, warum sie ausgerechnet an diesen Sommertagen angefangen hatten zu suchen, hätten sie allesamt das Gleiche gesagt: Sie hatten davon geträumt. Ein merkwürdiger dunkler und zugleich heller Traum. Ein Traum, den man schnell wieder vergisst, und doch daran erinnert wird, sobald man die Augen schließt. Sie alle fanden in ihren Träumen die Karte der Hexe, an den verschiedensten Orten und Plätzen, sie alle wurden zu Königen und Königinnen jener Zeit.
    Es war ein heißer, unglaublich schwüler Sommer, und die Sommerferien hatten kaum begonnen. Gewitterwolken, die das Licht am Horizont dunkler färbten als es hätte sein dürfen. Die Vögel stumm, die streunenden Hunde wachsam und ahnungsvoll, als röchen sie die Gefahr, die in
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