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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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anhaltend, damit er die Gesprächsfetzen zuordnen konnte, die wie böse Gewitterwolken durch das Haus zogen.
    »Dumme Kinder. Zu nichts zu gebrauchen«, hatte sein Vater gesagt, während er in der Zeitung blätterte. Seine Mutter, die am Herd saß und aus dem Fenster blickte, nickte zustimmend. Das fahle Licht der Lampe, der Geruch des Abendessens noch im Raum, die geputzten Schuhe neben der Tür. Alfons fragte sich, ob er wohl auch einer von diesen dummen Kindern war, die man zu nichts gebrauchen konnte.
    Vermutlich erschrak er deshalb auch nicht sonderlich, als er an jenem Tag das tote Mädchen im Keller sah. Sie saß auf dem alten Stuhl, den seine Mutter längst zum Sperrmüll hatte bringen wollen. Der Kopf unnatürlich schief, die Haare nass vom Regen und vom Blut. Am einen Fuß einen Schuh, am anderen eine schmutzige Socke.
    »Es geht ihnen jetzt viel besser, weißt du?«, flüsterte das Mädchen. Ihre Lippen schmatzten, und als Alfons hinsah, bemerkte er, dass sie aufgerissen waren und Hautfetzen bei jedem Wort nach vorne schnappten.
    Wie Schlangen, wie verrückt gewordene Schlangen, dachte Alfons.
    »Meine Mama sagt, sie wird jetzt jeden Samstag mein Grab gießen. Im Sommer vielleicht sogar täglich.«
    Alfons nickte, und eine Sekunde lang war ihm, als würde er gleich in die Hose machen, so stark war der Druck auf seiner Blase.
    Ihre Augen schlossen sich nicht mehr, ihr Gesicht so weiß wie Neuschnee. Er konnte sie riechen, altes geronnenes Blut, Kupfer und feuchte Graberde .
    »Du bist tot«, sagte Alfons schließlich, so leise, dass er nicht sicher war, es überhaupt gesagt zu haben.
    »Ich bin tot, du bist tot. Alle Kinder hier sind tot. Wusstest du das nicht?«
    Ein Schrei formte sich in seiner Kehle, aber bevor dieser seinen Mund verlassen konnte, schloss er so fest er nur konnte die Augen und fing an, rückwärts zu zählen. Sein Vater würde ihn schlagen, wenn er hier unten schreien würde wie ein kleines Kind. Vielleicht nur mit der Handfläche, aber wer weiß, vielleicht sogar mit der Faust
    Acht, sieben, sechs.
    Schlechte Träume, und die Schneegestalten, die an sein Fenster klopfen würden. Gestalten mit blutenden Augen.
    Fünf, vier, drei.
    Der Grabhügel, der Grabhügel, der Grabhügel.
    Zwei, eins, null.
    Er öffnete seine Augen. Das tote Mädchen war verschwunden.
    »Soll ich dir Beine machen?« Sein Vater stand in der Kellertür.
    »Ich komm schon.«
    »Das will ich dir auch raten, wenn du heute nicht auf dem Bauch schlafen willst!«
    »Entschuldigung, Papa.«
    »Dich kann man zu nichts gebrauchen. Missgeburt.«
    Alfons schaute auf und versuchte nicht zu weinen. Es gelang ihm nicht.
    Natürlich kam das Mädchen zurück. Schlechte Träume kommen immer wieder, wie Gewitterwolken in den Herbstmonaten. Sie saß auf einem Baum vor dem Haus und starrte Alfons an, starrte tief in seinen Bauch hinein. Lag auf seinem Bett, kleine Blutstropfen, die sein Kopfkissen wie hellroter Nieselregen bemalt hatten. Saß in der Badewanne, wenn er auf die Toilette musste, ihr Kleid über die Knie gezogen.
    »Sie wollen dich nicht. Sie hassen dich, weil du ihr Leben kaputt machst«, flüsterte es.
    » Deshalb bist du auch schon so gut wie tot, Alfons. Dummer, dummer Alfons.«
    »Moby Dick ist ein Wal. Ein großer Wal. Und ein Buch. Geschrieben von Herman Melville. Ismael war ein Matrose.
Ja-ha

    »Hör auf, du Hurenbock. Fick dich!«
    Alfons sah nicht hin. Er wusste nicht, was ein Hurenbock war, aber er wollte es auch gar nicht wissen. Sein Buch war ein Gebet, fernab vom Vaterunser, fernab von Weihwasser und silbernen Pistolenkugeln. Wenn er die Hexenkarte finden würde, könnte er sich so viele Bücher kaufen, wie er nur wollte. Hunderte Bücher, hunderte Geschichten. Hunderte Gebete. Und das tote Mädchen würde verschwinden. Die Zigaretten würde er einfach verkaufen, zehn Mark jeden Tag. Was für ein Traum.
    Dieser Gedanke trug Alfons über die dunklen Monate des Winters. Und im klaren Licht des Sommers war der Traum heller als zuvor.
    Der Wind drehte sich.
     
    Robert
    Das Baumhaus im alten Weidenbaum war sein Lieblingsplatz. Von hier aus konnte er das kleine rote Haus sehen, zu dem sie manchmal gingen. Ein guter Ort. Vor zwei Jahren hatte er das Baumhaus zusammen mit Christoph gebaut, immer auf der Hut, dass ihre Eltern sie dabei nicht erwischten. Über eine Wiese hinweg, zwischen dem mäandernden Feldweg und einer verlassenen Scheune stand jener Baum, zu dem er ging, wenn seine Mutter wieder anfing zu
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