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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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Siebzigerjahre, an die heißen trockenen Sommer. An die merkwürdigen Himmel. Wenn nicht, dann hören Sie mir einfach zu. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie wären in einer Stadt groß geworden, in der Kinder verschwinden. Ja?
    Aber zuerst besuchen wir den Knochenmann.

Das Haus des Knochenmannes
Sommer 1999
     
    Der Himmel war so grau, wie er nur sein konnte an einem Tag wie diesem. Ein Septembernachmittag, der Sommer nur noch ein Schatten, und die nahende Allerheiligen kälte den Himmel färbend. Arik stand an dem riesigen alten Baum, dem er längst einen Namen gegeben hatte: Harvey. Die Äste weit zum Himmel gestreckt, Windböen im Herbstlaub jener Tage, die so langsam verstrichen, dass sie fast schon stillstanden. Harvey war Ariks Lieblingsbaum, schon alleine deshalb, weil Arik von dort aus zum Haus des Knochenmannes sehen konnte. Er hatte die merkwürdigsten Geschichten über diesen Mann gehört, darunter einige, die ihn tief beunruhigten. Vermutlich, und das wusste Arik, stimmten die wenigsten davon.
    Einzelne Wege, die man kaum Straßen nennen konnte, führten am Haus vorbei, einige davon in das Waldstück, andere schlängelten sich über die Wiesen, hinunter zu den Bachläufen. Der Knochenmann wohnte in dem kleinen roten Haus mit den großen Fenstern und hellen Dachschindeln, mit dem Krötenteich, einige Meter entfernt, auf dem Papierschiffe torkelten. Dessen Grund übersät war mit verwaschenen Gedichtfetzen und Namen, geschrieben auf groben Flusskieseln. Versunkene Gebete, versunkene Namen.
    Arik nahm seinen Discman ab und steckte ihn in seine Tasche, denn hier gab es eine andere Art von Musik. Sie kam von den alten Bäumen, die am Rande des Feldes standen, von den Weiden, den Kastanienbäumen, die leise sangen, wenn ihre Äste die Wolken berührten. Auch Gesänge vom Löwenzahn. Dies war ein guter Ort, um über seine Schwester nachzudenken. Karla. Seine Eltern sprachen wenig über sie, und wenn sie es taten, waren ihre Worte leise und ihre Stimmen gebrochen. Arik kannte Karla nicht. Er kannte nur diese Frau, die in einem Krankenhausbett lag und schrecklich bleich war. Diese Frau, in deren Hals ein Loch war, in welchem manchmal ein Schlauch steckte, der merkwürdige Geräusche machte. Die Augen geöffnet, sie schloss sie nur selten, dort im Sankt Martin Krankenhaus.
    Arik war zwei Jahre alt, als es passierte. 1986, als das große Unglück in die Stadt gekommen war. Der blutrote Herbst, die rabenschwarzen Nächte des Verderbens. Karla war dreizehn Jahre alt, ein Allerheiligenkind mit strohblonden Haaren und hellen Augen. Nun war sie sechsundzwanzig und ein Allerheiligengespenst, von dem er träumte, in dessen Zimmer er schlief, wenn er Angst hatte. Dem Zimmer mit den alten Plakaten an den Wänden;
Donovan
und
Bee Gees
. Und dem Geruch von altem Staub unter dem Bett, dem Geruch von Karlas Büchern in den Regalen. Die Schulhefte immer noch auf dem Schreibtisch, die Hausaufgaben längst gemacht. Getrocknete Ahornblätter, die in dicken Büchern so brüchig geworden waren, dass man sie nicht anzufassen wagte. Zwei Fotoalben, in denen er nach ihr suchte und sie an seinen Orten fand – unten im Garten auf der Schaukel, als lebhaftes Mädchen. Mit Luftballons auf dem Jahrmarkt, der längst nicht mehr in die Stadt kam. Immer, wenn er auf ihrem Bett lag, glaubte er ein wenig von ihr zu spüren. Seine große Schwester, die von der Arbeit heimkam, er würde am Fenster auf sie warten. Sie würde von der Stadt erzählen, in der sie arbeitete, und von den Menschen dort, die ganz anders waren als die Leute hier. Vielleicht würde sie ihn sogar manchmal mitnehmen. Er würde still neben ihr im Zug sitzen und glücklich sein, eine große Schwester zu haben. Karla.
    Das Krankenhaus Sankt Martin war Ariks Meinung nach eigentlich kein richtiges Krankenhaus. Ein heruntergekommenes Gebäude mit alten Betten, in welchen nur Menschen lagen, denen man sowieso nicht mehr helfen konnte. Arik verstand nicht, wie es seine Eltern übers Herz brachten, Karla hierzulassen, wenn es ihr schlecht ging. Ihre Arme dünn und zerstochen, ihre Beine schief, und wenn er neben ihr auf dem Stuhl saß, war ihm, als stürben sie gemeinsam jeden Augenblick ein wenig mehr.
    Was damals geschehen war, wusste Arik nicht. Aber er ahnte, dass der Mann dort in dem Haus, das verlassen inmitten des Feldes stand, Dinge anders sah. In der Schule hatte Arik gehört, dass der Knochenmann oben in dem alten Haus gewesen sei. Auf der Anhöhe, dem
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