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Kind des Glücks

Kind des Glücks

Titel: Kind des Glücks
Autoren: Norman Spinrad
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Meereswasser noch viele Meilen vor der Küste aus der Luft zu erkennen ist.
    Nouvelle Orlean liegt ein Stück stromauf von den Marschen und Niederungen des eigentlichen Deltas des Rio Royale, an einem Punkt, wo der breite, ruhige Strom durch einen flachen Canyon fließt, den er in die niedrigen Küstenberge gewaschen hat. Hier gibt es zu beiden Seiten des Royale Flußmarschen, und direkt hinter ihnen erheben sich Hügel und Klippen, die mit den knorrigen, verwachsenen Bäumen des Bittersüßdschungels überwuchert sind; der Dschungel ist ein dichtes Gewirr von Lianenpilzen, Kriechranken und Safrolblumen, die sich gleich strahlenden, vielfarbigen Girlanden zu gewaltigen grünen Hügeln erheben. Hier gibt es auch Inseln im Strom, die meisten bloße schlammige Sandbänke, die vom Unterholz zusammengehalten werden, doch einige groß genug, um ganze Stadtbezirke aufzunehmen.
    Nouvelle Orlean breitet sich zu beiden Seiten des Flusses aus, auf den Inseln dazwischen – natürlichen wie auch künstlichen –, und einige Leute haben ihre Häuser in den vom Dschungel überwucherten Anhöhen über der Stadt errichtet. Hinter den Klippen am Flußufer erheben sich Hochhäuser, die überwiegend in zart schattiertem Spiegelglas gehalten sind, und zwischen ihnen und dem Fluß erstrecken sich an beiden Ufern baumbestandene Esplanaden mit Kiosken, Restaurants und Pavillons. Über und hinter dem Ost- und dem Westviertel winden sich die Straßen zu den vom Dschungel beschatteten Häusern der Oberstädte hinauf.
    Doch Rioville ist für alle, die sich für echte Orleaner halten, das Herz und sogar die Seele der Stadt – die magische Inselgruppe, die sich auf dem Royale ausbreitet und die Stadtteile, die sonst eine Doppelstadt wären, zu einem Ganzen vereint. Hier stehen die Gebäude niedrig und wirr durcheinander, in Harmonie mit dem Dschungel und den bewaldeten Parks, die den größten Teil des Geländes einnehmen – sowohl aus ästhetischen Gründen als auch um die Inseln zusammenzubinden, damit der Fluß sie nicht fortspült. Die Architektur von Rioville beruht auf Holz, Ziegeln und Stein oder zumindest auf hervorragenden Ersatzstoffen der natürlichen Baumaterialien – allerdings ohne weite Glasflächen an jedem Aussichtspunkt auszuschließen. Veranden, Laubengänge, Sommerhäuser, offene Pavillons und Innenräume, deren Wände sich ganz der Natur öffnen und die Vegetation eindringen lassen, entsprechen genau dem Wohnstil von Rioville. Und ebenso die Hunderte von Fußgängerbrücken, die die kleineren Kanäle überspannen, und die Tausende von Booten jeden Typs und jeden Aussehens, die der Stadt die Atmosphäre des sagenhaften alten Venedig verleihen – nicht ohne eine bewußte Hommage an die Geister der alten Dogen.
    Eher durch die moralische Kraft der Gewohnheit als durch Gesetze sind die Bezirke Riovilles völlig dem Reich der Kunst, des Müßiggangs, des kulturellen Genusses, der Freude und dem Tantra überlassen, und die meisten Betreiber dieser Gewerbe wohnen auch in diesen Bezirken, genau wie Menschen mit eher prosaischen Berufungen, die den Wunsch und das Kleingeld haben, in dieser Atmosphäre einer ewigen Fiesta zu leben.
    Meine Eltern hatten am nördlichen Rand von Rioville auf der niedrigen Kuppe einer kleinen Insel ein weitläufiges Haus gebaut, ganz in der Nähe der Flußmitte, und während meiner ersten achtzehn Lebensjahre verbrachte ich viele Spätnachmittage und frühe Abende auf der Veranda im ersten Stock damit, dem Sonnenuntergang hinter der westlichen Oberstadt zuzuschauen, während die Lichter der Häuser in den Einschnitten des tief im Schatten liegenden Dschungels aufblinkten und die Sterne langsam im purpurnen Himmel erschienen und die spiegelnden Gebäude am Ostufer tieforange aufblitzten, wenn sie den Sonnenuntergang reflektierend wie eine Flammenzunge über die Inseln und das Wasser warfen.
    Von meinem kleinen Horst aus konnte ich nach Norden den Fluß hinaufblicken, wie er sich durch jene Klamm ergoß, die bis zum eisbedeckten Norden des Kontinents hinauflief, und manchmal wehte ein duftender Wind, schwer von den Gerüchen der Dschungelpflanzen und der heraufziehenden Nacht, von den Gipfeln herunter, die mir damals wie das Dach und das Geheimnis der Welt erschienen, und ich konnte tief einatmen und mir vorstellen, daß ich den Geist des Planeten aufnahm. An anderen Abenden trieb eine Nebelbank vom Meer heran, umhüllte Rioville mit duftenden, verträumten Schleiern, verwandelte die Lichter der Stadt
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