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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer
Autoren: Stephanie Parris
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zu verwandeln. Der Umstand, dass ich mich nicht mehr in die Nähe des Abtritts wagen durfte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
    »Wenn dich die Inquisition als Ketzer brandmarkt, wirst du in Italien nie sicher sein«, gab Paolo traurig zu bedenken. »Sie werden nicht ruhen, bis sie dich auf den Scheiterhaufen gebracht haben.«
    »Dann muss ich hier weg, bevor es dazu kommen kann. Vielleicht gehe ich nach Frankreich.«
    Ich wandte mich ab, um meinen Umhang zu suchen. Just in diesem Moment flammte in meiner Erinnerung ein Bild auf, so klar und deutlich wie an dem Tag, an dem es sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte – das Bild eines Mannes, der vom Feuer verzehrt wurde und voller Qual den Hals verrenkte, um sein Gesicht vor der Hitze der hungrig an seinen Kleidern leckenden Flammen zu schützen. Diese sinnlose, allzu menschliche Geste verfolgte mich noch Jahre später; der verzweifelte Versuch, das Gesicht vor dem Feuer zu bewahren, obwohl sein Kopf an einen Pfahl gebunden war. Seither hatte ich es bewusst vermieden, einem weiteren Flammentod eines Menschen auf dem Scheiterhaufen beizuwohnen. Ich war damals zwölf Jahre alt gewesen, und mein Vater, ein Berufssoldat und frommer Christ, hatte mich nach Rom mitgenommen, damit ich mir eine öffentliche Hinrichtung ansehen konnte – derartige Dinge gehörten seiner Meinung nach zu meiner Erziehung und Ausbildung. Wir hatten einen guten Platz auf dem Campo dei Fiori ergattert, und ich hatte mich gewundert, wie viele Menschen sich eingefunden hatten, die Profit aus dem entsetzlichen Schauspiel schlagen wollten – als handelte es sich um eine Bärenhatz oder einen Jahrmarkt: Pamphletverkäufer, Bettelmönche sowie Männer und Frauen, die mit Tabletts um ihren Hals von einem zum anderen gingen und Brot, Kuchen und Dörrfisch feilboten.
Auch mit der Grausamkeit des Publikums hatte ich nicht gerechnet; die entfesselte, grölende Menge verhöhnte den Gefangenen, spie ihn an und bewarf ihn mit Steinen, als er mit gesenktem Kopf schweigend zwischen seinen Wächtern auf den Scheiterhaufen zuschritt. Ich fragte mich, ob er aus Scham schwieg oder um sich einen Rest von Würde zu bewahren, aber mein Vater erklärte mir, dass man ihm einen Eisendorn durch die Zunge getrieben hätte, damit er nicht versuchen könnte, die Zuschauer zu seinem teuflischen Glauben zu bekehren, indem er noch kurz vor seinem Tod schändliche Hetzreden verbreitete.
    Er wurde an den Pfahl gebunden, und man schichtete Reisigbündel um ihn herum auf, bis er kaum noch zu sehen war. Als eine Fackel an das Holz gehalten wurde, ertönte ein lautes Knacken, und das Reisig fing sofort Feuer. Mein Vater nickte zustimmend; manchmal, so erklärte er, gestatteten die Behörden, wenn sie sich gnädig zeigen wollten, grünes Holz für die Errichtung des Scheiterhaufens zu verwenden, sodass der Verurteilte zumeist im Rauch erstickte, bevor er die Flammen spürte. Doch bei den schlimmsten Ketzern – Hexen, Zauberern, Gottesleugnern, Lutheranern und Benandanti – sorgte man dafür, dass das Holz so trocken war wie die Hänge des Monte Cicala im Sommer, damit die Flammen den Sünder peinigten, bis er Gott mit seinem letzten Atemzug um Vergebung für seine Verfehlungen anflehte.
    Ich wollte den Blick abwenden, sobald die Flammen züngelnd auf das Gesicht des Mannes übergriffen, um es zu verschlingen, mein Vater dagegen stand weiterhin unerschütterlich wie ein Fels neben mir und verfolgte das grausame Geschehen, als wäre es ein Teil seiner Pflichten gegenüber Gott, die Todesqualen des Delinquenten mit anzusehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und da ich nicht weniger männlich oder fromm erscheinen wollte als er, nahm ich mich zusammen. Ich hörte die erstickten Schreie, die aus dem verschlossenen Mund des Verurteilten drangen, als seine Augen aus den Höhlen quollen, ich hörte das
Zischen und Prasseln, als seine Haut zu verschrumpeln, sich vom Fleisch zu lösen und die blutige Masse darunter zu schmelzen begann. Ich roch das verbrannte Fleisch, ein Geruch, der mich auf Ekel erregende Weise an das Wildschwein erinnerte, das bei Straßenfesten in Nola immer über einer Grube geröstet wurde. Aber die Jubelrufe und die Begeisterung der Menge, als der Ketzer endlich sein Leben aushauchte, ließ sich ganz und gar nicht mit der Atmosphäre eines Festes zu Ehren eines Heiligen vergleichen, ich fand das ganze Schauspiel einfach nur abstoßend. Auf dem Heimweg fragte ich meinen Vater, warum der Mann eines dermaßen
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