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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer
Autoren: Stephanie Parris
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halben Laib Brot, indem ich im Stall eines an der Straße gelegenen Gasthauses arbeitete. In dieser Nacht überfiel mich ein Mann, während ich schlief, und ich erwachte mit geprellten Rippen, einer blutigen Nase und keinem Brot mehr im Beutel. Zum Glück hatte der Räuber nur seine Fäuste und kein Messer gebraucht, was, wie ich bald herausfand, unter den Vagabunden und Landstreichern, die in den billigen Gasthäusern entlang der Straße nach Rom übernachteten, an der Tagesordnung war. Am dritten Tag lernte ich, Acht zu geben, und hatte bereits die Hälfte der Strecke nach Rom zurückgelegt. Früher als gedacht vermisste ich den vertrauten Alltagstrott des Klosterlebens, der so lange mein Leben bestimmt hatte, zugleich empfand ich schon das berauschende Gefühl der Freiheit. Jetzt war ich mein eigener Herr und niemandem mehr Rechenschaft schuldig. In Rom würde ich mich geradewegs in die Höhle des Löwen begeben, das wusste ich, gleichwohl gefiel es mir, die Vorsehung herauszufordern. Entweder würde ich ein neues Leben als
freier Mann beginnen, oder die Inquisition würde mich aufspüren und mich den Flammen übergeben. Natürlich würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass mich letzteres Schicksal ereilte – ich fürchtete mich nicht davor, für meine Überzeugungen zu sterben, aber nicht, bevor ich überhaupt entschieden hätte, welche dieser Überzeugungen es wert wären, für sie mein Leben aufs Spiel zu setzen.

Erster Teil
London, England
    Mai 1583

1
    Auf einem Pferd, das ich mir vom französischen Botschafter am Hof von Königin Elisabeth von England ausgeliehen hatte, ritt ich am Morgen des 20. Mai 1583 über die London Bridge. Die Sonne brannte bereits warm vom Himmel, obwohl es noch lange nicht Mittag war; glitzernde Lichter tanzten über die wellige Oberfläche der breiten Themse, und eine leichte Brise, die den Jauchegestank des Flusses mit sich brachte, wehte mir das Haar aus dem Gesicht. Mein Herz schwoll vor freudiger Erregung, als ich das südliche Ufer erreichte, nach rechts abbog und am Wasser entlang Richtung Winchester House ritt, wo ich mich der königlichen Abordnung anschließen und ein Boot besteigen würde, das uns zu der berühmten Universität von Oxford bringen sollte.
    Der Palast der Bischöfe von Winchester war aus rotem Backstein im englischen Stil um einen Hofraum herum erbaut. Kunstvolle Schornsteine zierten das Dach der großen Halle, deren hohe rechteckige Fenster auf den Fluss hinausgingen. Vor dem Gebäude fiel eine weitläufige Rasenfläche zu einem großen Kai und einer Anlegestelle ab. Sowie ich näher kam, erkannte ich, dass sich dort auf dem Gras eine bunte Menschenmenge versammelt hatte. Fetzen fröhlicher Melodien zerrissen die Luft, als die Musiker zu proben begannen. Bestimmt die Hälfte der feinen Gesellschaft Londons schien sich in ihrem besten Festtagsstaat eingefunden zu haben, um das prunkvolle Schauspiel zu verfolgen. An den Stufen machten Diener ein großes,
mit Seidenvorhängen und roten und goldenen Kissen geschmücktes Boot bereit. Im Bug befanden sich Sitze für acht Ruderer, und im Heck schützte ein reich bestickter Baldachin die Sitzplätze der Fahrgäste vor der Sonne. Mit Edelsteinen besetze bunte Banner flatterten im leichten Wind und reflektierten die Lichtstrahlen.
    Ich stieg ab, und ein Diener eilte herbei, um mein Pferd zu halten, während ich unter den argwöhnischen Blicken einiger gut gekleideter Gentlemen auf das Haus zuschritt. Plötzlich spürte ich, wie sich eine Faust so fest zwischen meine Schulterblätter bohrte, dass ich beinahe gestolpert und zu Boden gestürzt wäre.
    »Giordano Bruno, du alte Ratte! Haben sie dich doch noch nicht verbrannt?«
    Sobald ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, fuhr ich ärgerlich herum. Vor mir stand Philip Sidney, von einem Ohr zum anderen grinsend, breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen, das Haar immer noch zu jener eigentümlichen Tolle frisiert, die ihm das Aussehen eines Schuljungen verlieh, der gerade aus dem Bett kam. Sidney, der aristokratische Soldat und Dichter, den ich während meiner Flucht durch Italien in Padua kennen gelernt hatte.
    »Dafür müssten sie mich erst einmal einfangen, Philip.« Sein Anblick hatte mir ein breites Lächeln entlockt.
    »Sir Philip, du ungehobelter Klotz – ich bin dieses Jahr zum Ritter geschlagen worden, falls du das noch nicht weißt.«
    »Ausgezeichnet! Heißt das, dass du dir endlich bessere Manieren angewöhnst?«
    Sidney
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