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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer
Autoren: Stephanie Parris
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grausamen Todes hatte sterben müssen. Hatte er jemanden umgebracht? Mein Vater antwortete, er sei ein Ketzer gewesen. Als ich ihn bat, mir zu erklären, was denn ein Ketzer wäre, sagte er, der Mann habe die Autorität des Papstes nicht anerkannt, indem er die Existenz der Hölle und des Fegefeuers leugnete. So lernte ich, dass in Italien Worte und Gedanken genauso gefährlich sein konnten wie Schwerter und Pfeile und dass ein Philosoph oder ein Wissenschaftler genauso viel Mut aufbringen musste wie ein Soldat, wenn er öffentlich seine Meinung vertreten wollte.
    Ich hörte, wie irgendwo im Gebäude eine Tür heftig zugeschlagen wurde.
    »Sie kommen«, flüsterte ich Paolo drängend zu. »Wo zum Teufel ist mein Umhang?«
    »Hier.« Er reichte mir seinen eigenen und nahm sich einen Moment Zeit, um ihn mir um die Schultern zu legen. »Und nimm den hier.« Er drückte mir eine Lederscheide in die Hand, in der ein kleiner Dolch mit beinernem Griff steckte. Ich sah ihn überrascht an. »Ein Geschenk meines Vaters«, murmelte er. »Da, wo du hingehst, brauchst du ihn nötiger als ich. Und jetzt, sbrigati . Beeil dich!«
    Das schmale Fenster unserer Zelle war gerade groß genug, dass ich auf das Sims klettern und mich hindurchzwängen könnte – erst mit einem Bein, dann mit dem anderen. Wir befanden uns im ersten Stock des Klosters, allerdings ragte ungefähr
sechs Fuß unter dem Fenster das Schrägdach des Quartiers der Laienbrüder so weit vor, dass ich darauf landen könnte, wenn ich den Fall sorgfältig berechnete. Von dort aus könnte ich mich an einem Strebepfeiler hinunterhangeln und, falls es mir gelänge, den Garten unbemerkt zu durchqueren, über die äußere Klostermauer klettern und im Schutz der Dunkelheit in den Straßen von Neapel verschwinden.
    Ich schob den Dolch in meine Kutte, warf mir die Tasche über die Schulter, zog mich auf das Sims und hielt inne, um nach draußen zu spähen. Der Mond hing fahl und geschwollen über der Stadt, rauchige Wolkenfetzen zogen über ihn hinweg. Alles war totenstill. Einen Moment lang kam ich mir so vor, als würde ich im freien Raum zwischen zwei Leben schweben. Dreizehn Jahre lang war ich ein Mönch gewesen. Wenn ich mein linkes Bein durch das Fenster schöbe und auf das unter mir liegende Dach spränge, würde ich dieses Leben für immer hinter mir lassen. Paolo hatte recht, ich würde wegen unerlaubten Verlassens meines Ordens exkommuniziert werden und hätte vielleicht noch schlimmere Strafen zu befürchten. Mein Freund blickte mit vor stummem Kummer trüben Augen zu mir empor und griff nach meiner Hand. Ich beugte mich zu ihm hinunter, um die Knöchel seiner Hand zu küssen, da vernahm ich draußen auf dem Gang erneut das Stampfen zahlreicher Füße.
    »Dio sia con te «, flüsterte Paolo, und ich quetschte mich durch das kleine Fenster, drehte und wand mich so, dass ich nur noch an den Fingerspitzen baumelte. Dann ließ ich, auf Gott und mein Glück vertrauend, das Fenstersims los. Unmittelbar nachdem ich ungeschickt auf dem Dach unter mir gelandet war, hörte ich, wie über mir der Fensterflügel hastig geschlossen wurde. Paolo schien es gerade noch rechtzeitig geschafft zu haben.
    Das Mondlicht war Segen und Fluch zugleich. Ich hielt mich im Schatten der Mauer, als ich durch den Garten hinter den Unterkünften der Mönche huschte. Unter Zuhilfenahme wilder Ranken gelang es mir, die äußerste Mauer, die die Grenze des
Klostergeländes bildete, zu überwinden. Auf der anderen Seite ließ ich mich zu Boden fallen und rollte einen kleinen Hang zur Straße hinunter. Im nächsten Moment musste ich im Dunkel einer Türöffnung in Deckung gehen, weil ein Reiter auf einem schwarzen Pferd eilig die schmale Straße entlang auf das Kloster zugaloppierte. Sein aufgebauschter Umhang wallte hinter ihm her. Erst als ich mit wild hämmerndem Herzen und in den Ohren rauschendem Blut den Kopf hob und die runde Krempe seines Hutes erkannte, während er hügelaufwärts in Richtung des Haupttores verschwand, wurde mir klar, dass es sich bei der Gestalt, die an mir vorübergejagt war, um den hiesigen Inquisitor handelte, der allein meinetwegen noch zu so später Stunde unterwegs war.
    Irgendwann viel später vermochte ich mich nicht mehr weiterzuschleppen, deshalb kroch ich am Rand des Stadtgebiets von Neapel in einen Graben, um dort die Nacht zu verbringen. Paolos Umhang bot mir nur wenig Schutz vor der eisigen Kälte. Am zweiten Tag verdiente ich mir einen Schlafplatz und einen
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