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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Autoren: Hubert Mania
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Röntgenstrahlen wissen die Radiologen und Apparatebauer um die gesundheitlichen Gefahren einer Überdosierung. Sie arbeiten an Schutzvorkehrungen, um die Strahlenstärke zu verringern. Denn Fälle von hartnäckigen Beschwerden und gar schweren Verbrennungen mit tödlichen Folgen dämpfen die X-Strahlen-Euphorie unter Physikern und Medizinern erheblich. Niemand weiß genau, wie hoch die Strahlendosis sein darf.
    Auch der unerschrockene Zahnarzt Otto Walkhoff weiß natürlich über die schädlichen Wirkungen der Röntgenstrahlen Bescheid, als er im Herbst 1900 den ersten dokumentierten Selbstversuch mit Radioaktivität wagt. Dafür stellt ihm Giesel 0,2 Gramm seines Radiumpräparats zur Verfügung. Vielleicht, so hofft Walkhoff, ist auch diese Art der Strahlung therapeutisch nutzbar. Er legt das in einer Zelluloidkapsel eingeschlossene Präparat auf seinen Unterarm und bestrahlt ihn zweimal 20 Minuten lang, worauf sich seine Haut entzündet. Friedrich Giesel, der täglich im Labor Hautkontakt mit Radium hat, ist verblüfft, nimmt aber die Herausforderung Walkhoffs an und wiederholt den Versuch mit leicht erhöhter Dosis. Um ganz sicherzugehen, lässt er die Kapsel auch gleich zwei Stunden auf der Innenfläche des Oberarms liegen. Vierzehn Tage später hat er eine «sehr heftige Hautentzündung mit Pigmentierung an der betreffenden, genau umschriebenen Stelle davongetragen, der ein Blasigwerden und Abstoßen der Oberhaut wie nach einer Verbrennung folgte, worauf Heilung eintrat» [Fri 2 :126]. Eineinhalb Jahre später ist noch immer eine Narbe sichtbar. Auch die Haare wachsen an dieser Stelle nicht mehr nach. Das Phänomen müsste ihn eigentlich an seine frühen Versuche mit den X-Strahlen erinnern, als er leidenschaftlich um eine bessere Darstellung der Röntgenaufnahmen bemüht gewesen war und seinem neunjährigen Sohn Fritz nach ungezählten Schädeldurchleuchtungen die Haare ausgefallen waren.
    In Paris werden die Berichte von Walkhoff und Giesel begeistert aufgenommen und mit sportlichem Ehrgeiz übertrumpft. Wenn Giesel zwei Stunden Bestrahlungszeit vorgelegt hat, will Pierre Curie sich nicht lumpen lassen und schraubt den Rekord auf brenzlige zehn Stunden hoch. Das danach entstehende Wundmal macht sehr viel mehr her als die vergleichsweise harmlose Verbrennung des Deutschen. Die verwundete Hautoberfläche wird exakt vermessen, die Entzündungstage werden gezählt, Verbandszeug kommt zum Einsatz, und die Wunde scheint sich tief ins Fleisch eingebrannt zu haben, da sie «einen ins Graue spielenden Ton annimmt», wie Curie mit Wohlgefallen beobachtet [Kso:69]. Bald schildert auch Henri Becquerel seine Erfahrungen mit vergleichbaren Hautverbrennungen, sobald man die Radiumkapseln zu lange in der Jackentasche mit sich herumträgt. Man präsentiert seine Wunden also mit einem gewissen Forscherstolz, denn noch überwiegt der Optimismus die Bedenken: Der beobachtete Effekt könnte womöglich einmal zu einer Bestrahlungstherapie für Krebs und Hautflechten führen.
    Giesel entwickelt sich derweil zum Radium-Derwisch und wirbelt, auf der Suche nach Opfern, durch Haus und Garten. Die Topfpflanzen seiner Frau nehmen nach kurzer Bestrahlung mit Radium eine herbstliche Farbe an und gehen ein. Er zerstört – im Namen der Wissenschaft – die Keimfähigkeit von Blumensamen und schaltet gezielt das Chlorophyll aller grünen Lebewesen aus, die sich ihm und seinen Radiumkapseln in den Weg stellen.
    Der sorglose Umgang und tägliche Kontakt mit immer reineren und stärker strahlenden Radiumpräparaten lässt die Pioniere zu lebenden Strahlenquellen werden. Was sie berühren, wird selbst radioaktiv. Die Notizbücher von Marie und Pierre Curie sind auch im 21. Jahrhundert noch so stark kontaminiert, dass sie in Bleikisten aufbewahrt werden müssen. Auch Briefe und Dokumente aus dem Nachlass von Giesel dürfen nur unter Beachtung der Strahlenschutzbestimmungen eingesehen werden. Für einen ganz speziellen Versuch seiner Freunde Elster und Geitel stellt sich im Sommer 1904 der deutsche Radiummeister selbst als Versuchsperson zur Verfügung. Die Experimentatoren gehen von folgender Überlegung aus: Da Radium permanent das radioaktive Edelgas Radon verströmt, müsse Giesel nach nunmehr sechs Jahren Arbeit mit seinen Präparaten mittlerweile so viel Radon in seinen Körper aufgenommen haben, dass seine Atemluft messbar elektrisch leitfähig sein müsse. Sie lassen ihn kräftig Luft unter die Glocke eines Apparates blasen, der auch
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