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Königskinder (German Edition)

Königskinder (German Edition)

Titel: Königskinder (German Edition)
Autoren: Erica Fischer
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    1
    Es ist der zwanzigste Juni 1940, ein sonniger Donnerstagvormittag in London. Im Hyde Park zwitschern die Vögel, und Schwäne gleiten über das reglose Wasser des Serpentine. Auf dem menschenleeren Rasen sitzen eine Frau und ein Mann in Liegestühlen. Die Frau trägt ein geblümtes Kleid und hat die Schuhe ausgezogen. Geistesabwesend betrachtet sie ihre Füße mit den rot lackierten Zehennägeln. Das Sakko des Mannes hängt über der Lehne seines Liegestuhls, sein aufgeknöpftes Hemd ist zerknittert. Die beiden halten sich an den Händen und sprechen leise miteinander, ohne sich dabei anzusehen.
    «Du musst jetzt stark sein, liebes Kind.»
    Sie wendet sich ihm zu. Ihre Augen sind groß und braun. Das kurzgeschnittene dunkle Haar fällt ihr weich in die Stirn. «Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Wir waren schon so oft getrennt, aber diesmal ist es anders. Ich habe Angst.»
    «Wer weiß. Vielleicht übersehen sie mich.»
    «Erst stufen sie uns als refugees from Nazi oppression ein, und jetzt sollen wir auf einmal Fünfte Kolonne sein. Das heißt du, ich bin ja nur eine Frau.»
    Ihr Deutsch hat einen harten Klang.
    «Da haben sie allerdings recht. Oder wärst du etwa in der Lage, den Sturz der britischen Regierung zu planen? Aber du musst zugeben: Von einem Tag auf den anderen von einem bedauernswerten Flüchtling zu einem enemy alien und Fifth Columnist zu mutieren, entbehrt nicht einer gewissen Komik.»
    Sein Wienerisch gibt dem sarkastischen Unterton etwas Vertrautes, dem sie sich nicht entziehen kann.
    «Deine Augen sind so blau», flüstert sie.
    Er lächelt und streichelt ihr die Wange.
    «Es wird alles gut werden. Wir haben schon so viel miteinander durchgestanden.»
    «Ja, aber gemeinsam! Wenn die Deutschen kommen, und du bist nicht bei mir, was dann, Erich?»
    «Die Deutschen werden nicht kommen.»
    «Du und dein Optimismus. Du weißt doch, dass die Picture Post ihre ganze letzte Ausgabe der Frage gewidmet hat, wie man sich verhalten soll, wenn die Deutschen kommen. Für die Post ist eine Invasion durchaus realistisch.»
    «Ja, ja, und wir sollen uns alle mit Molotowcocktails eindecken! So ein Schwachsinn.»
    «Und Churchill? Wenn die deutschen Fallschirmjäger kommen, wird es sowohl für die Engländer als auch für uns besser sein, nicht hier zu sein. So hat er es gesagt, nicht wahr? Ich kann mich noch genau erinnern, wie du mir die Zeitung mit seiner Rede gezeigt hast.»
    Darauf weiß Erich nichts zu antworten.
    «Meine Süße, schau, wie blau der Himmel ist. Aber du siehst hinter diesem Baum sicher eine graue Wolke. Stimmt’s?»
    «Wenn ich dich ansehe, mein Junge, wird mir blau vor den Augen. Es ist, als würde der Himmel durch deine Augen scheinen.»
    Erich schmunzelt. Er weiß um die Wirkung seiner Augen.
    «So friedlich ist es hier. Wir sitzen in dieser grünen Oase, werden uns heute Abend saftige englische Butter aufs Brot schmieren, und auf der anderen Seite des Kanals ist die Hölle los. Irgendwie irreal. Frankreich kapituliert. De Gaulle in London. Wer hätte sich das noch vor einem Jahr vorstellen können.»
    «Wer kann die Deutschen jetzt noch aufhalten? Wenn sie kommen, dürfen nur noch Personen mit Ariernachweis das Gras betreten. Dann können wir hier nicht mehr zusammen sitzen.»
    «Hast du nicht de Gaulles Rede im Radio gehört?» Erich breitet theatralisch die Arme aus. «Die Flamme des französischen Widerstands wird nicht erlöschen! Wir müssen dran glauben.»
    «Die Franzosen! Die waren schon immer groß in patriotischen Gesängen. Wie meine Polen. Nur nicht der Realität ins Auge schauen. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Engländer nicht einmal mehr Zement haben, um die öffentlichen Schutzräume weiterzubauen.»
    «Irka! Neulich habe ich auf der Straße eine Gruppe englischer Soldaten gesehen, die aus Dunkirk evakuiert worden sind – übrigens eine großartige logistische Leistung der Engländer. Sie lachten, ballten die Fäuste und zeigten mit dem Daumen nach oben. Den Passanten riefen sie zu: ‹We’ll be back in France before long!› »
    «Sie sind naiv, sie kennen die Nazis nicht. Sie wissen nicht, wozu die fähig sind. Wir wissen es. Aber trotzdem, Emmerich: Ich lass mich gern von dir – pocieszać , wie sagt man nur? – trösten. Wer wird das tun, wenn du weg bist?»
    «Emmerich? So schlimm steht es schon um uns?»
    «Manchmal muss ich dich einfach necken mit deinem komischen Namen. Du bist mein Junge, mein Jüngelchen, mein
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