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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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mir den Löwenzahn hinters Ohr.
    »Ja, gefällt mir.«
    »Magst du es mehr als Schokolade?«
    »Ja«, gebärdete ich.
    »Mehr als … Eiscreme?«
    Ich tat, als müsse ich angestrengt nachdenken. »Hm. Kommt auf den Geschmack an.«
    Dot ließ sich auf die Knie fallen. »Erdbeer?«
    »Auf jeden Fall mehr als Erdbeer, ja.«
    »Banane?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nee.«
    Dot kicherte und beugte sich über mich. »Mehr als Banane?«
    Ich küsste sie auf die Nasenspitze. »Mehr als jede Eiscreme der Welt.«
    Dot plumpste neben mir ins Gras. Der Wind zauste ihre langen blonden Haare.
    »Du hast einen Löwenzahn hinterm Ohr.«
    »Weiß ich.«
    »Warum?«
    »Sind meine Lieblingsblumen«, log ich.
    »Magst du die mehr als Narzissen?«
    »Mehr als alle Blumen auf der Welt«, gebärdete ich, um ihre Fragerei zu beenden, weil ich hörte, wie die Haustür aufging und jemand durch den Flur ging. Ich setzte mich auf und horchte. Dot schaute mich fragend an. »Mum und Dad«, erklärte ich.
    Dot sprang auf, aber als ich die Stimmen meiner Eltern durchs offene Küchenfenster hörte, packte ich Dot an der Hand, damit sie nicht ins Haus lief. Die beiden stritten sich. Bevor sie uns bemerken konnten, zog ich Dot mit mir hinter einen Busch. Sie lachte, weil sie das für ein neues Spiel hielt. Ich schob die Zweige beiseite, um das Geschehen im Auge zu behalten.
    Mum knallte eine Henkeltasse auf den Küchentisch. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du eingewilligt hast!«
    »Was hätte ich denn tun sollen?«
    Mum schaltete wütend den Wasserkocher ein. »Mit mir reden! Es mit mir besprechen!«
    »Und wie, wenn du gar nicht im Zimmer warst?«
    »Das ist keine Entschuldigung.«
    »Er ist ihr Großvater, Jane. Er hat ein Recht, sie zu sehen.«
    »Hör bloß auf damit! Die Kinder haben schon seit Jahren nichts mehr mit ihm zu tun gehabt.«
    »Umso mehr Grund, dass sie ihn jetzt noch besuchen, bevor es zu spät ist.«
    Mum verdrehte die Augen, und ich musste Dot mühsam festhalten, weil sie zappelte und zog und sich befreien wollte. Ich hielt ihr den Mund zu und machte ein strenges »Schsch«-Gesicht. Mum nahm jetzt einen Teelöffel aus der Schublade und knallte die Schublade mit der Hüfte zu.
    »Wir haben vor Jahren eine Entscheidung getroffen. Vor vielen Jahren. Ich werde die jetzt nicht rückgängig machen, nur weil dein Vater ein bisschen …«
    »Er hatte einen Schlaganfall!«
    Mum schmiss den Löffel in die Tasse. »Das ändert nichts! Gar nichts! Auf wessen Seite bist du?«
    »Ich will nicht, dass es da Seiten gibt, Jane. Nicht mehr. Wir sind eine Familie.«
    »Sag das mal deinem …«, begann Mum, aber in diesem Moment biss Dot mich in den Finger und riss sich los, und ich konnte sie nicht mehr festhalten. Sie rannte, so schnell sie konnte, und schlug zweimal Rad auf dem Rasen. Ihr Kleid fiel ihr über die Schultern, und man sah ihre Unterhose. Dann kullerte sie ins Gras. Als Mum und Dad aus dem Fenster schauten, pflückte Dot einen Löwenzahn, voll von diesen Dingern, die wie tote Feen aussehen. Als Dot fest pustete und der Löwenzahn sich auflöste, verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Und jetzt höre ich auf zu schreiben, Mr Harris, weil ich müde bin, und außerdem ist mein linkes Bein eingeschlafen.
    Zoe

1 Fiction Road
Bath
    2. September
    Lieber Mr Harris,
    das Beste an diesem Schuppen ist definitiv, dass er keine Augen hat. Überhaupt keine, wenn man mal von den acht Augen der Spinne absieht, und die sind nicht auf mich gerichtet. Die Spinne hockt in ihrem Netz auf dem Fenstersims und starrt raus auf den Baum und die Wolke und den Halbmond, dessen silbernes Licht sich in ihren Augen spiegelt, während sie über Fliegen oder sonst was nachdenkt.
    Morgen wird das anders sein. Dann bin ich wieder umgeben von Augen. Traurigen und prüfenden und glotzenden Augen, und solchen, die das vermeiden wollen, mich aber trotzdem anschauen, wenn ich nach den Sommerferien zum ersten Mal wieder in die Schule komme. Und ich kann mich nirgendwo verstecken, nicht mal auf dem Klo, falls Sie daran denken sollten, denn im letzten Schuljahr warteten ein paar Mädchen, bis ich aus der Kabine kam, und überfielen mich dann mit Fragen – was und wann und wo und wie, aber nicht wer, denn sie waren alle bei seinem Begräbnis gewesen.
    Fragen Fragen Fragen Fragen , die immer lauter und lauter wurden, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wirkte allmählich verdächtig, deshalb musste ich dringend etwas sagen, brachte aber keinen Ton
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