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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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heraus. Mein Rücken fing an zu brennen, ein weißglühendes Lodern vom Po bis zum Hirn. Ich drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf, und das Wasser sprudelte über meine Hände, als wolle es meine Schuld wegspülen. Ich wusch und rieb meine Hände immer hektischer und atmete immer schneller, und die Mädchen rückten immer näher. Ich hielt es keinen Moment länger aus und rannte hinaus. Als ich aus der Tür stürzte, stieß ich mit meiner Englischlehrerin zusammen, die einen Blick auf mein Gesicht warf und mich in ihr Arbeitszimmer mitnahm.
    An der Wand hing ein Bild von Lady Macbeth über dem Zitat Fort, verdammter Fleck! , und ich weiß ja nicht, ob Sie Shakespeare kennen, Mr Harris, aber falls Sie sich jetzt wundern: Lady Macbeth hat sich nicht über einen Pickel am Kinn aufgeregt. Ich starrte auf ihre blutigen Hände, während meine eigenen heftig zitterten. Mrs Macklin sagte beruhigend zu mir: »Na, na, alles halb so schlimm, lass dir so viel Zeit, wie du brauchst«, und ich fragte mich, ob das wirklich so gemeint war, ob ich wirklich bis in alle Ewigkeit neben ihrem Schreibtisch sitzen bleiben konnte. Ich konnte es kaum ertragen, wie nett sie zu mir war, wie sie mir den Arm tätschelte und sagte, ich solle ganz ruhig ein- und ausatmen, und ich sei ja so tapfer und es täte ihr so leid, als sei es ihre Schuld, um Himmels willen, und nicht meine, dass er jetzt in einem Sarg lag.
    Das ist das Allerschlimmste: das Wissen, dass er unter der Erde ist. Mit offenen Augen. Braune Augen, die ich so gut kenne und die jetzt zu einer Welt hinaufstarren, die er nicht mehr erreichen kann. Sein Mund ist auch offen, als schreie er die Wahrheit hinaus, aber niemand kann ihn hören. Manchmal sehe ich sogar seine Fingernägel vor mir, gesplittert und blutig, weil er Worte in den Sargdeckel kratzt, eine lange Erklärung für die Geschehnisse des 1. Mai, so tief unter der Erde begraben, dass niemand sie jemals lesen wird.
    Aber vielleicht sind diese Worte eine Hilfe, Mr Harris. Indem ich Ihnen immer mehr von der Geschichte erzähle, wird vielleicht von der Sarggeschichte immer mehr gelöscht, bis sie eines Tages ganz verschwunden ist. Seine Fingernägel werden heilen, und er wird die Hände auf der Brust falten und endlich seine Augen schließen, und dann werden die Maden kommen, um sein Fleisch zu verzehren, aber es wird eine Befreiung sein, und sein Gerippe wird lächeln.
    TEIL ZWEI
    Jetzt sollte ich Ihnen wohl lieber erst mal berichten, was letztes Jahr passierte, nachdem meine Eltern diesen Streit wegen meinem Großvater hatten. Sie versuchten sich normal zu benehmen danach, aber die Luft war so dick, dass man sie hätte mit dem Messer schneiden können. Was vermutlich leichter gewesen wäre, als das Steak auf meinem Teller klein zu kriegen. Normalerweise misslingt meiner Mutter das Essen nicht, doch an diesem Abend war alles verkocht. Ich hoffe, das hört sich jetzt nicht undankbar an. Wahrscheinlich können Sie das Gefängnisessen kaum noch ertragen, das ich mir so ähnlich vorstelle wie die Grütze, die ich in dem Musical Oliver! gesehen habe. Die Wachen essen bestimmt direkt vor Ihrer Zelle Pizza, und das können Sie riechen, und dann läuft Ihnen das Wasser in Ihrem armen Mund zusammen, und Sie müssen sich beherrschen, damit Sie nicht wie in dem Musical Mal was in den Bauch singen.
    Wenn es Sie tröstet: Von dem Essen, das Mum an dem Abend kochte, ist nur wenig in unserem Bauch gelandet – nach fünf Minuten kapitulierten wir bei den Steaks.
    »Warum habe ich Großvater noch nie gesehen?«, gebärdete Dot plötzlich.
    Dad griff nach seinem Weinglas, trank aber nicht.
    »Du hast ihn gesehen«, gebärdete Mum. »Du kannst dich nur nicht mehr erinnern.«
    »Habe ich ihn gemocht?«
    »Du … du warst noch zu klein, um eine Meinung zu haben«, antwortete Mum.
    »Wird er wieder gesund?«
    »Wir hoffen es. Aber jetzt gerade geht es ihm sehr schlecht.«
    »Geht es ihm morgen wieder besser? Oder übermorgen? Und am Tag danach?«
    »Hör auf dumme Fragen zu stellen«, murmelte Soph. Dot starrte sie verständnislos an, weil sie noch Mühe mit dem Lippenlesen hat. »Hör auf dumme Fragen zu stellen«, wiederholte Soph und sprach absichtlich noch schneller.
    » Sophie …«, sagte Mum warnend.
    »Großvater wird es bald besser gehen, Schatz«, gebärdete Dad langsam und ziemlich unbeholfen. »Er ist im Krankenhaus, aber sein Zustand ist stabil.«
    Mum legte den Arm um Dot und strich ihr über den Kopf. »Mach dir keine
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