Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
Vom Netzwerk:
stand auf. Seine Schultern waren so breit, als könne er die ganze Welt tragen, mindestens aber mich huckepack. Er hatte eine verwaschene Bluejeans und ein ausgeleiertes schwarzes T-Shirt an, hatte sich also noch weniger Mühe mit seinem Outfit gegeben als ich. Meine flachen Schuhe schienen plötzlich zehn Zentimeter über dem Boden zu schweben.
    »Kannst du den Vogel sehen?«, fragte der Junge, überschattete die Augen und spähte in den Baum.
    »Nein, aber …«
    »Und woher willst du dann wissen, ob das eine Eule war? Könnte ja auch ein Gespenst sein.«
    »Es ist aber kein Gespenst.«
    Der Junge kam auf mich zu, und mir stockte der Atem. »Woher weißt du das? Es könnte doch ein Geist sein, der …«
    »Ich weiß es, weil ich die Eule an ihrem Ruf erkannt habe«, unterbrach ihn. In diesem Moment ertönte er wieder, wie auf Stichwort. Ich hielt den Finger hoch. »Hast du gehört? Das ist der Ruf des Steinkauzes, auch Käuzchen genannt. Und zwar der Paarungsruf.«
    Der Junge zog eine Augenbraue hoch. Das erstaunte ihn. »Der Paarungsruf also?« Seine Augen funkelten, und ich genoss den stillen Triumph. »Erzähl mir mehr über dieses liebestolle Käuzchen.«
    »Es ist eine der in England meistverbreiteten Eulenarten. Und seine Federn sind wunderschön, so braunweiß gefleckt. Es hat einen großen Kopf, recht lange Beine, gelbe Augen«, sprudelte ich los, »und bei weiten Strecken fliegen sie wellenförmig, ähnlich wie Spechte und …« Der Junge begann zu lachen, und ich stimmte ein. Und dann rief die Eule wieder, als wolle sie mitlachen.
    »Wie heißt du?«, fragte der Junge, und ich wollte gerade antworten, als das Gartentor quietschte und das Klacken von hohen Absätzen zu hören war.
    »Ich glaub’s nicht! Du bist echt gekommen!«, kreischte Lauren. »Los, holen wir uns einen Drink!« Bevor ich protestieren konnte, hatte sie meine Hand gepackt und zerrte mich zum Haus, wobei sie über eine Ritze zwischen den Platten stolperte.
    »Vorsicht, Krokodile«, sagte ich. Aus den Augenwinkeln sah ich den Jungen grinsen. Lauren blieb verwirrt stehen.
    »Was?«, fragte sie.
    »Ach, nichts«, murmelte ich und grinste auch.
    Das Wohnzimmer war klein. Am Boden lag ein ausgeblichener roter Teppich, und die beige Couch war an die Wand gerückt worden, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Lauren warf ihre Jacke weg und stürzte sich johlend und mit erhobenen Armen ins Getümmel. Sie wirbelte durchs Zimmer, während ich mir ein Glas vom Getränketisch nahm und mir Limo eingoss. Und nach kurzem Überlegen Wodka. Ich mischte das Ganze mit dem Zeigefinger. Die Musik wummerte in meinen Ohren, in meinem Blut, in meinen Organen. La la la la la , sang mein Herz. Ich kippte meinen Drink runter und beobachtete die Paare, die sich da zwischen Sofa und Kamin verrenkten, als seien sie in einem Nachtclub und nicht in einem Wohnzimmer; ganz ehrlich, sie sahen total albern aus, wie sie so den Unterleib kreisen ließen.
    Und dann ganz plötzlich war er da, lehnte im Türrahmen und betrachtete belustigt das Geschehen. Er warf mir einen Blick zu, oder vielleicht warf auch ich ihm einen Blick zu – jedenfalls trafen sich unsere Blicke. Und er schaute auf die Tanzenden und schüttelte den Kopf, und ich verdrehte die Augen, und wir wussten ganz genau, was der andere dachte, Mr Harris, als seien unsere Gehirne durch ein Telefonkabel miteinander verbunden. Der Junge bewegte sich nicht auf mich zu und ich nicht auf ihn, aber dieses Kabel zwischen unseren Hirnen surrte wie wild.
    Jemand mit roten Haaren sprach ihn an, aber der Junge schaute immer wieder zu mir herüber, als lohne sich ein zweiter und ein dritter und ein hundertster Blick auf mich. Mein Körper fühlte sich plötzlich ganz anders an. Nicht nur die Arme und Beine und Organe. Auch die Haut und die Lippen und die Rundungen. Ich machte mir noch einen Wodka-Drink, während der Junge mit jemandem sprach. Meine Hände waren so zittrig, dass zwar ein Schwall Wodka in meinem Glas landete, aber ziemlich viel danebenging. Fluchend griff ich nach einer Serviette, und als ich wieder aufschaute, war der Junge verschwunden. Einfach so. Im einen Moment lehnte er noch an der Tür und im nächsten nicht mehr, und mir blieb vor Enttäuschung fast das Herz stehen.
    Ich sagte Lauren, ich ginge aufs Klo, und lief raus, drängte mich an den anderen vorbei und duckte mich unter ihren Armen hindurch. Der Junge war weder draußen im Flur noch in der Küche oder in der mit Mänteln und Jacken vollgestopften
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher