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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken
Autoren: Annabel Pitcher
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alles zu versäumen. Mir immer nur die Geschichten der anderen anzuhören. Und ich war furchtbar neidisch, weil ich eigene Geschichten haben wollte. Als ich dann zu Max’ Party eingeladen wurde, nahm ich mir deshalb vor, Mum so zu fragen, dass sie es mir nicht ausschlagen konnte.
    Am Samstagmorgen, vor meiner Schicht in der Bücherei, wo ich für drei Pfund fünfzig pro Stunde Bücher in die Regale zurückstelle, lag ich im Bett und überlegte, wie ich ihr die Frage stellen sollte. Da klingelte das Telefon. Ich hörte an Dads Stimme, dass es etwas Ernsthaftes sein musste. Deshalb stand ich auf, zog meinen Morgenmantel an, den ich jetzt auch trage – er hat ein Muster aus roten und schwarzen Blumen und vorn an den Ärmeln Spitze –, und ging nach unten. Im nächsten Moment sprang Dad in seinen BMW , ohne gefrühstückt zu haben, und Mum rannte ihm auf die Zufahrt nach, in Küchenschürze und mit gelben Gummihandschuhen.
    »Du musst nicht sofort losfahren«, sagte sie. Da ich ab jetzt ganze Gespräche wiedergeben werde, Mr. Harris, mache ich Absätze, damit sie leichter lesbar sind. Ich weiß natürlich nicht mehr jede Einzelheit, die gesprochen wurde, und werde deshalb ein bisschen umschreiben und außerdem die langweiligen Sachen wie zum Beispiel Gespräche über das Wetter auslassen.
    »Was ist los?«, fragte ich. Ich stand auf der Veranda und sah vermutlich besorgt aus.
    »Iss wenigstens noch einen Toast, Simon.«
    Dad schüttelte den Kopf. »Wir müssen los. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
    »Wir?«, fragte Mum.
    »Du kommst doch mit, oder nicht?«
    »Lass uns das in Ruhe überlegen …«
    »Es kann bald zu Ende gehen mit ihm! Wir müssen sofort zu ihm!«
    »Wenn du das Gefühl hast, dass du in der Sekunde hinfahren musst, werde ich dich nicht davon abhalten. Aber ich bleibe hier. Du weißt, dass ich deinen Vater nicht …«
    »Was ist los?«, fragte ich wieder, diesmal lauter und noch beunruhigter. Was meine Eltern natürlich nicht bemerkten.
    Dad rieb sich die Schläfen. Seine Fingerspitzen kreisten in den grauen Haaren. »Was soll ich nach so langer Zeit zu ihm sagen?«
    Mum verzog das Gesicht. »Keine Ahnung.«
    »Wovon redet ihr?«, fragte ich.
    »Meinst du, er lässt mich überhaupt ins Zimmer?«, fragte Dad.
    »So wie es sich anhört, wird er wohl kaum merken, dass du überhaupt da bist«, sagte Mum.
    »Wer denn?« fragte ich und trat auf die Zufahrt.
    »Hausschuhe!«, rief Mum.
    Ich ging wieder zurück auf die Veranda und streifte mir die Füße an der Matte ab. »Kann mir jetzt mal jemand erzählen, was los ist?«
    Schweigen. Es zog sich hin.
    »Großvater«, sagte Dad dann.
    »Er hatte einen Schlaganfall«, ergänzte Mum.
    »Oh«, sagte ich.
    Das war jetzt nicht so besonders mitfühlend, aber ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass ich Großvater seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich weiß noch, dass ich unbedingt auch so eine Oblate haben wollte, wie Dad sie bei der Kommunion in Großvaters Kirche bekam, doch Mum hielt uns davon ab, zum Altar zu gehen. Und ich weiß noch, wie Großvater die Stirn runzelte, als ich versuchte, Sophs Finger im Gebetbuch einzuklemmen, und dabei die Melodie aus Der weiße Hai summte. Großvater hatte diesen großen Garten mit riesigen Sonnenblumen, und einmal baute ich mir einen Unterschlupf in seiner Garage, und er gab mir eine Flasche mit Fruchtschorle, die ich meinen Puppen servieren konnte. Aber dann gab es eines Tages einen Streit, und wir besuchten Großvater nie wieder. Ich weiß nicht, was da passiert war. Wir fuhren sofort los, ohne Mittagessen. Mein Magen knurrte so laut, dass wir ausnahmsweise bei McDonald’s essen durften, und Mum war so zerstreut, dass sie mich nicht mal davon abhielt, einen Big Mac und eine große Portion Pommes zu bestellen.
    »Du willst wirklich hierbleiben?«, fragte Dad.
    Mum zupfte an ihren Gummihandschuhen. »Wer soll sich denn sonst um die Mädchen kümmern?«
    »Ich«, rief ich, weil mir plötzlich eine Idee gekommen war. »Das kann ich doch machen.«
    Mum runzelte die Stirn. »Ich denke eher nicht.«
    »Sie ist alt genug«, meinte Dad.
    »Und wenn was schiefgeht?«
    Dad hielt sein Handy hoch. »Ich bin erreichbar.«
    »Ich weiß nicht …« Mum kaute auf der Innenseite ihrer Wange und starrte mich an. »Was ist mit deiner Arbeit in der Bücherei?«
    Ich zuckte die Achseln. »Ich rufe an und sag denen, dass wir einen Notfall in der Familie haben.«
    »Na bitte«, sagte Dad. »Erledigt.«
    Ein Vogel setzte
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