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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Es war, als hätte sie sich seit dem Tag, an dem sie die Peloponnes verlassen hatte und in die frühe Lufthansa-Maschine nach Frankfurt und Stockholm gestiegen war, auf einer ununterbrochenen Reise befunden. In Gedanken, hauptsächlich um den Schwindel fernzuhalten, zählte sie die lange Reihe von Abflügen und Ankünften. Athen - Frankfurt - Visby - Stockholm - Öster-sund - Stockholm - Frankfurt - Singapur - Sydney - Melbourne - Bangkok - Frankfurt - Barcelona - Madrid - Johannesburg - Maputo - Johannesburg - Frankfurt - Athen -Frankfurt - Stockholm - Östersund - Stockholm - Frankfurt - Johannesburg - Maputo - Johannesburg - Madrid -Barcelona.
    Es waren die Stationen einer alptraumhaften Reise. Um sie her waren Menschen verschwunden oder gestorben. Sie würde sich nie von den Bildern von Umbi und Lucinda befreien können, auch wenn sie sich nach und nach zu blassen Fotografien verwandelten, auf denen keine Gesichtszüge mehr zu erkennen waren. Christian Holloway würde auch in ihrer Erinnerung sein. Die ausgeschnittene Silhouette eines ganz und gar schonungslosen Menschen, der sich nicht besiegen ließ.
    Hinter diesen Gesichtern blieben all die anderen, die nur Schatten waren, ungreifbar.
    Sie ging zu Henriks Wohnung. Bianca putzte das Treppenhaus, als sie kam.
    Sie saßen lange in ihrer Wohnung und unterhielten sich. Nachher erinnerte sich Louise nicht an viel von dem, was sie gesagt hatte. Aber sie fragte danach, wer Henriks Wohnung kurz nach seinem Tod besucht hatte. Bianca sah sie verständnislos an.
    »Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß Sie nicht die Wahrheit sagten, sondern daß jemand dagewesen war.«
    »Warum hatte ich lügen sollen?«
    »Ich weiß es nicht. Deshalb frage ich.«
    »Sie müssen sich irren. Niemand war hier. Ich habe Ihnen und Ihrem Mann nichts verheimlicht.«
    »Dann habe ich mich geirrt.«
    »Ist Ihr Mann zurückgekommen?«
    »Nein.«
    »Ich verstehe das nicht.«
    »Es wurde ihm vielleicht zuviel. Männer sind manchmal schwach. Er ist vielleicht einfach nach Apollo Bay zurückgefahren.«
    »Haben Sie ihn dort nicht gesucht?«
    »Ich meine ein anderes Apollo Bay. Eins, von dem ich nicht weiß, wo es liegt. Eigentlich bin ich nur gekommen, um Henriks Wohnung ein letztes Mal zu besuchen. Ich möchte dort gern allein sein.«
    Sie ging zur Wohnung hinauf und dachte, daß der Raum, in dem sie sich befand, in diesem Augenblick der Mittelpunkt ihres Lebens war. Es war Heiligabend, ein grauer Regentag, und sie hatte immer noch keine Ahnung, wie ihr Leben sich in Zukunft gestalten würde.
    Als sie ging, kam Bianca mit einem Brief in der Hand aus der Tür.
    »Ich habe vergessen, Ihnen diesen Brief zu geben. Er kam vor ein paar Tagen.«
    Der Brief hatte keinen Absender. Dem Stempel war zu entnehmen, daß er in Spanien aufgegeben worden war. Ihr Name und die Adresse des Hotels standen auf dem Brief.
    »Wie ist der Brief bei Ihnen gelandet?«
    »Es ist jemand vom Hotel gekommen. Wahrscheinlich haben Sie Henriks Adresse dort angegeben.«
    »Vielleicht habe ich das. Ich weiß es nicht mehr.«
    Louise steckte ihn in die Tasche.
    »Sind Sie sicher, daß Sie nicht noch mehr Briefe haben?«
    »Hier ist keiner mehr.«
    »Keine Briefe, die Henrik Sie nachzusenden bat? In einem Jahr? In zehn Jahren?«
    Bianca verstand. Sie schüttelte den Kopf. Es gab keine anderen Briefe als den, den sie an Nazrin geschickt hatte.
    Der Regen hatte aufgehört. Louise beschloß, einen langen Spaziergang zu machen, sich richtig müde zu laufen und dann im Hotel zu Abend zu essen. Bevor sie einschlief, würde sie Artur anrufen und ihm frohe Weihnachten wünschen. Vielleicht würde sie am zweiten Feiertag nach Hause fliegen. Aber mindestens wollte sie ihm versprechen, zu Neujahr zu Hause zu sein.
    Erst spät am Abend fiel ihr der Brief wieder ein. Sie las ihn in ihrem Zimmer. Mit wachsendem Entsetzen erkannte sie, daß noch nichts vorbei war, der Schmerz, an dem sie trug, hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht.
    Der Text war auf englisch abgefaßt. Alle Angaben über Personennamen, Länder und Städte waren geschwärzt.
    »Die Angaben zur Person stimmen mit den Angaben auf dem Identitätsband überein, das am Körper befestigt ist. Hautfarbe durchgehend blaß, Leichenflecken blaurot und auf dem Rücken des Körpers verteilt. Anhaltende Leichenstarre. Petechien in den Bindehäuten der Augen und um die Augen. Keine Fremdkörper in den Gehörgängen, den Nasenöffnungen, der Mundhöhle
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