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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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Gurgeln, als sie Luft in die Lungen zu ziehen versuchte. Es dauerte lange, bis sie wieder zu sprechen vermochte. Louise hörte, wie der Albino nach seiner Pause wieder zu spielen begann.
    »Wenn du nicht kannst, mußt du nicht weitersprechen.«
    »Ich muß. Morgen kann ich tot sein. Du sollst die lange Reise nicht vergebens gemacht haben. Henrik auch nicht.«
    »Was hast du gesehen?«
    »Die Männer in Stiefeln, Schürzen und Gummihandschuhen geben den Menschen Injektionen. Aber nicht nur die Kranken bekommen Spritzen. Viele, die herkommen, sind gesund, genau wie Umbi es erzählt hat. Sie werden als Versuchstiere für unerprobte Impfstoffe benutzt. Ihnen wird infiziertes Blut injiziert. Sie werden mit dem Aidsvirus infiziert, um testen zu können, ob der Impfstoff wirkt. Die meisten in dem Raum, in dem du mich gefunden hast, sind hier infiziert worden. Sie waren gesund, als sie kamen. Aber es gibt auch andere, solche wie ich, die die Krankheit auf andere Weise bekommen haben. Wir bekommen Medizin, die nicht einmal an Tieren erprobt wurde, um zu sehen, ob man Heilmittel finden kann, wenn die Krankheit ausgebrochen ist. Für diejenigen, die die Tests an uns ausführen, sind Menschen und Ratten und Schimpansen austauschbar. Eigentlich sind die Tiere nur ein Umweg. Es sind ja trotz allem nicht sie, die geheilt werden sollen. Und wer, glaubst du, macht sich eigentlich etwas daraus, daß Afrikaner geopfert werden, wenn das Ergebnis Medikamente und Impfstoffe sind, die den Menschen im Westen nutzen?«
    »Wie kannst du das wissen?«
    »Ich weiß es.« Lucindas Stimme war plötzlich stark.
    »Ich verstehe nicht.«
    »Das solltest du aber.«
    »Wie hast du das alles erfahren? Nur durch Lauschen?«
    »Ich habe es von Henrik gelernt.«
    »Hat er gesehen, was du gesehen hast?«
    »Er hat es nie eindeutig gesagt. Ich glaube, er wollte mich schonen. Aber er hat mir alles über das Virus beigebracht, darüber, wie man verschiedene Substanzen ausprobiert, um zu sehen, ob sie wirken und ob sie Nebenwirkungen haben. Er hat es sich selbst beigebracht, er hatte nie Medizin studiert. Aber er wollte es wissen. Er hat als Freiwilliger hier angefangen, um die Wahrheit zu erfahren. Ich glaube, was er hier erlebt hat, war schlimmer als alles, was er sich je vorgestellt hat.«
    Louise tastete nach Lucindas Hand. »Glaubst du, daß er deshalb gestorben ist? Weil er entdeckt hatte, was unter der Erde vor sich ging?«
    »Den Freiwilligen dort ist es streng verboten, in den Keller hinunterzugehen, wo Virusproben und Medikamente aufbewahrt werden. Er verstieß gegen das Verbot. Aus Lust auf Entdeckungen und auf das Wagnis, verbotenes Gelände zu betreten, ging er die Treppe hinunter.«
    Louise versuchte zu verstehen, was Lucinda berichtete. Henrik war eine Treppe hinuntergegangen und hatte ein Geheimnis entdeckt, das ihn das Leben kostete.
    Sie hatte recht gehabt. Henrik war ermordet worden. Jemand hatte ihm unter Zwang die Schlaftabletten verabreicht. Doch gleichzeitig nagte ein Zweifel an ihr. Konnte die Wahrheit wirklich so einfach sein?
    »Morgen kann ich weitersprechen«, sagte Lucinda, und ihre Stimme war wieder flüsternd und kraftlos. »Ich kann jetzt nicht mehr.«
    »Du darfst nicht dort bleiben. Ich nehme dich mit. Fort von hier.«
    »Wenn ich versuche, von hier fortzugehen, werden sie meine Familie nicht in Frieden lassen. Ich bleibe hier. Irgendwo muß ich ja sterben.«
    Louise sah ein, daß jeder Versuch, Lucinda dazu zu überreden, sich von Warren zu seinem Lastwagen tragen und wegfahren zu lassen, sinnlos war.
    »Wie kommst du zurück?«
    »Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Kannst du bis morgen bleiben?«
    »Ich wohne im Hotel.«
    »Komm zurück, wenn du in der Dunkelheit die timbila hörst. Ich wechsle vielleicht den Platz. Aber wenn ich nicht aufgehört habe zu atmen, komme ich zurück. Es ist nicht gut zu sterben, bevor man seine Geschichte zu Ende erzählt hat.«
    »Dann wirst du nicht sterben.«
    »Ich werde sterben. Daran braucht keiner von uns beiden zu zweifeln. Weißt du, wovor ich mich am meisten fürchte? Nicht davor, daß es weh tut, nicht davor, daß das Herz im letzten Augenblick Widerstand leistet. Ich fürchte mich davor, so grauenhaft lange tot zu sein. Ich sehe kein Ende meines Todes. Geh jetzt.«
    Louise antwortete nicht. Es gab nichts, was sie sagen konnte.
    Der Klang der timbila stieg und sank im Dunkeln und in den Winden vom Meer.
    Louise stand auf und ging auf
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