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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn
Autoren: Henning Mankell
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sie in Henriks Stockholmer Wohnung durchgegangen war. Jetzt erst fiel ihr ein Satz wieder ein, den er auf den Umschlag einer der zahlreichen Mappen mit Material über das verschwundene Gehirn des toten Präsidenten Kennedy geschrieben hatte. Henrik war voller Wut gewesen, als er die Frage gestellt hatte: »Wie würden wir Europäer reagieren, wenn die Welt nur wüßte, wie wir sterben, aber nichts darüber, wie wir leben?«
    Als die kurze Dämmerung anbrach, stand sie am Fenster und sah hinunter zum Meer. Der Strandpavillon lag im Schatten. Der Lastwagen war fort. Ein paar Kinder spielten mit etwas, was aussah wie ein toter Vogel. Frauen mit Körben auf dem Kopf entfernten sich am Strand. Ein Mann versuchte in dem tiefen Sand auf einem Fahrrad zu balancieren. Es mißlang, er fiel um und stand mit einem Lachen wieder auf. Louise beneidete ihn um seine unverstellte Freude darüber, daß ihm etwas mißlungen war.
    Die Dunkelheit brach herein, ein schwarzer Mantel über der Erde. Sie ging zum Restaurant. Der Albino mit der timbila saß an seinem gewohnten Platz. Aber er spielte nicht, er aß Reis und Gemüse aus einer roten Plastikschale. Neben ihm stand eine Bierflasche. Er aß langsam, als wäre er nicht hungrig. Sie ging hinüber zur Bar. Ein paar Männer saßen an einem Tisch und dösten über ihren Bierflaschen. Die Frau hinter dem Tresen war Lucinda so ähnlich, daß Louise erschrak. Aber wenn sie lächelte, sah man, daß ihr einige Zähne fehlten. Louise fühlte, daß sie etwas Starkes brauchte. Artur hätte eine Flasche Branntwein vor sie auf den Tisch gestellt. Hier, trink, stärk dich! Sie bestellte einen Whisky, den sie eigentlich gar nicht mochte, und eine Flasche des einheimischen Biers Laurentina. Der Albino begann auf seiner timbila zu spielen. Hör in der Dunkelheit auf die timbila. Ein paar Gäste kamen ins Restaurant, ein älterer Portugiese mit einem sehr jungen afrikanischen Mädchen. Louise schätzte den Altersunterschied auf vierzig Jahre. Sie verspürte Lust, hinzugehen und ihn zu schlagen. Er war eine Verkörperung dessen, wie sich Liebe und Verachtung zu einem noch immer lebendigen Ausdruck der jahrhundertelangen kolonialen Unterdrückung vermischt hatten.
    Ich weiß zuwenig. Mit meinem Wissen über bronzezeitliche Gräber oder über die Bedeutung des Eisenoxyds für die Farbe der griechischen Keramik kann ich fast jedem auf die Finger klopfen. Aber über die Welt außerhalb der Gräberfelder und Museen weiß ich so unendlich viel weniger als Henrik. Ich bin ein zutiefst unwissender Mensch, und erst jetzt, mit über fünfzig Jahren, wird es mir bewußt.
    Sie leerte ihr Glas und begann zu schwitzen. Ein milder Nebel legte sich über ihr Bewußtsein. Der Albino spielte. Die Frau hinter dem Tresen kaute auf den Fingernägeln. Louise horchte ins Dunkel. Nach einigem Zögern bestellte sie ein weiteres Glas Whisky.
    Es war zwanzig vor sieben. Wieviel Uhr war es eigentlich in Schweden ? War es ein Unterschied von einer oder von zwei Stunden? Früher oder später?
    Sie dachte nicht weiter darüber nach, weil die timbila plötzlich verstummte. Sie leerte ihr Glas und zahlte. Der Albino bewegte sich langsam durch den leeren Speisesaal und verschwand in Richtung der Toiletten. Louise ging auf die Vorderseite des Hotels. Warrens Lastwagen war noch nicht wieder da. Das Meer rauschte, jemand pfiff in der Dunkelheit. Eine flackernde Fahrradlampe leuchtete auf und verschwand. Sie wartete.
    Der Albino spielte wieder auf seiner timbila. Der Klang war jetzt anders, entfernter. Plötzlich war ihr klar, daß sie eine andere timbila hörte. Das Instrument im Restaurant stand verlassen da, der Albino war nicht zurückgekommen.
    Sie tat ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaus. Die vibrierenden Töne der timbila kamen von der Meerseite, aber nicht vom Strandpavillon her, sondern von der anderen Seite, wo die Fischer ihre Netze aufzuhängen pflegten. Wieder packte Louise die Angst, sie fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, zwang sich aber, an Henrik zu denken. Sie war ihm jetzt näher als je zuvor seit seinem Tod.
    Sie lauschte nach anderen Geräuschen als der timbila, doch da war nur das Meer mit den Wellen, die den weiten Weg von Indien herangerollt waren, und ihre eigene Einsamkeit, vollkommen lautlos wie eine eisig Kälte Winternacht.
    Sie ging in die Richtung des Klangs, er kam näher, aber sie sah kein Feuer, nichts. Sie trat ganz nahe heran, die unsichtbare timbila war dicht neben ihr. Sie verstummte
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