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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern
Autoren: Andreas Eschbach
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Grund, warum mit ihr Handel getrieben wird. Der Grund, aus dem sie so begehrt ist, ist ihr Duft. Der Duft der Augenöffnerblume bewirkt bei allen Wesen, dass sie dessen gewahr werden, was sie tun.
    Das klingt nach wenig. Beinahe nach nichts. Es ist nicht messbar, nicht spürbar, nicht sichtbar. Es hat kaum mehr Bedeutung als der Flügelschlag eines Schmetterlings.
    Aber sagt man nicht, der Flügelschlag eines Schmetterlings könne, zur richtigen Zeit und unter den richtigen Umständen, einen Hurrikan auf der anderen Seite der Welt auslösen – oder verhindern?
    In dem Moment, da wir dessen gewahr werden, was wir tun, können wir darüber nachdenken, wie wir es tun, warum wir es tun, ob wir es überhaupt tun wollen. In dem Moment, da wir dessen gewahr sind, was wir tun, sind wir lebendiger, sind wir wirklich da.
    Der Duft der Augenöffnerblume weckt uns auf, und es ist, als hätten wir bis dahin geschlafen und nur geträumt, wach zu sein. Es ist, als zöge sie uns einen Schleier von unseren Augen, sodass wir die Welt zum ersten Mal wahrhaft sehen. Deshalb nennt man sie die Augenöffnerblume.
    Lothar Schiefer stürzte gerade ein Glas Whisky hinab in dem Moment, als der Duft der Augenöffnerblume ihn erreichte.
    Ich trinke, erkannte er. Ich trinke, aber es schmeckt mir gar nicht. Ich habe überhaupt nicht auf den Geschmack geachtet.
    Er sah das leere Glas an. Was tat er hier? Whisky für hundert Mark die Flasche, nur um besoffen zu werden? Und wozu das alles? War das wirklich die Art und Weise, wie er sein Leben verbringen wollte?
    Er spürte den Impuls, das Glas gegen die Wand zu schmettern, aber das hatte er schon unzählige Male getan, also stellte er es einfach auf den Tisch. Er sah sich um, staunend. Als wäre er noch nie hier gewesen, dabei war es doch seine Wohnung, sein Zuhause, von einer begabten jungen Innenarchitekturstudentin eingerichtet und von einer aus Tschechien stammenden Mutter zweier Kinder sorgfältig gepflegt. Eine so wunderschöne Wohnung. Wie kam es, dass er das noch nie bemerkt hatte? Wie kam es, dass er noch nie bemerkt hatte, wie viel Grund er hatte, dem Leben dankbar zu sein?
    Als er an der Brüstung der Terrasse angekommen war und hinabsah auf das nächtliche Stuttgart, das sich anschickte, das neue Jahrtausend mit Feuerwerk zu begrüßen, kamen ihm die Tränen, so prachtvoll war alles.
    Wolfgang Mattek presste gerade die letzten Feuerwerksraketen in die Zündhalterungen, als ihn der Duft der Augenöffnerblume erreichte.
    Ich arbeite, erkannte er. Ich wollte doch nur noch ausruhen, und nun hetze ich mich ab, um mit den letzten Vorräten noch ein jämmerliches Feuerwerk hinzubekommen. Als hinge weiß Gott was davon ab.
    Niemals ausruhen. Als dürfe er das nicht. Er hielt inne, sah auf die Uhr, sah die Zeiger auf die Zwölf zu wandern und spürte den Impuls, sich zu beeilen. Er musste das Jahr 2000 feiern, als Fabrikant von Feuerwerksartikeln war das seine Pflicht …!
    Pflicht, das war etwas, an dem man sich festhalten konnte. Da musste man nicht lange nachdenken, Pflichten gab es genug, und ehe man sich versah, konnte man schon die nächste am Hals haben.
    Eigentlich machte er das alles nur, um sich abzulenken. Weil er sich Sorgen um Nora und die Kinder machte. Und weil er so müde war, so sterbensmüde. Eigentlich hätte er schlafen wollen, unendlich lange schlafen, aber er konnte doch nicht schlafen, solange er nicht wusste, was los war, wo Nora war, Thilo, Sabrina … was aus Kelwitt geworden war … War es nicht seine Pflicht, am Telefon auszuharren?
    Als draußen das Feuerwerk losging, legte sich Wolfgang Mattek, in dessen Fabrik das meiste davon hergestellt worden war, angezogen aufs Bett – was er noch nie gemacht hatte – und schlief ungeachtet des Krachs sofort ein.
    Die Sekretärin, in deren Kresseschale der Samen der Augenöffnerblume irrtümlich gelandet war, hatte über Weihnachten und Neujahr Urlaub, und ihre Stellvertreterin hatte sich nicht um die Kräuterzucht gekümmert. Als sich an diesem Silvesterabend die Blüten öffneten, verteilte die unauffällige, hochleistungsfähige Klimaanlage des Weißen Hauses ihren Duft sofort in allen Räumen.
    Der Präsident hatte die langsam in Gang kommende Party wieder verlassen, verfolgt von neugierigen Blicken, die sich vermutlich fragten, welche Weltkrise sich da anbahnen mochte, und stand gerade in einem der Räume, die kein offizieller Prospekt nennt, um sich auf mehreren Monitoren Bilder anzusehen, die die Kameras der
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