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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern
Autoren: Andreas Eschbach
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Schaum vor dem Mund hatte. Die Blonde stand mit Panik in den Augen da.
    »Meine Freundin hat einen epileptischen Anfall!«, rief sie. »Schnell, sie braucht einen Arzt!«
    Der Agent starrte das Mädchen am Boden erschrocken an. Sie zitterte mit geschlossenen Augen. Der Schaum rann ihr aus dem Mundwinkel ins Ohr. »Okay«, stieß er hervor. »Kümmere dich um sie. Ich hole Hilfe.«
    Er stürmte davon.
    Im nächsten Moment griff Sabrina nach einem Handtuch und wischte ihrer Freundin damit über den Mund. Dorothea öffnete die Augen, rappelte sich hoch, nahm Sabrina das Handtuch aus der Hand und begann, auch das Innere ihres Mundes zu säubern. Ihr Gesicht war ein einziger Ausdruck des Abscheus, aber sie gab keinen Ton von sich.
    Sabrina war schon an der Tür und spähte hinaus. Niemand zu sehen. Sie machte eine hektische Bewegung mit der Hand. Dorothea warf das Handtuch beiseite, beide schlüpften in ihre Winterjacken und zur Tür hinaus.
    Das Fenster am Ende des Flurs ließ sich problemlos öffnen. Draußen dämmerte es schon, und es begann zu schneien. Bis zum Dach der angebauten Garage ging es etwa zwei Meter hinab.
    »Du warst genial!«, erklärte Sabrina, während sie auf das Fensterbrett kletterte.
    »Wenn du wüsstest, wie der Seifenschaum geschmeckt hat«, meinte Dorothea und verzog das Gesicht. »Hoffentlich werde ich den Geschmack im Mund jemals wieder los.«
    »Ich war im Internat, Schätzchen«, erwiderte Sabrina und brachte sich in Sprungposition. »Glaub mir, ich weiß, wie Seifenschaum schmeckt.«
    Es rummste gewaltig, als sie auf dem Garagendach landete.
    Es rummste noch einmal, als Dorothea ihr folgte. Aber niemand schrie, niemand ballerte in die Luft. Sie machten, dass sie hinab auf die Erde kamen und in der nächsten Gasse verschwanden.
    Sybilla hatte ihre Zwiesprache mit dem Baum beendet und wusste nun, was zu tun war. »Wir müssen nach Süden«, erklärte sie. »Südlich der Donau sind wir sicher.«
    »Sicher wovor?«, fragte Nora.
    »Ein Himmelszeichen wird es geben«, verkündete Sybilla mit in sich gekehrtem Blick. »Das Bayerland wird verheert und verzehrt, das Böhmerland mit dem Besen ausgekehrt. Über Nacht wird es geschehen. Die Leut’, die sich am Fuchsenriegel verstecken oder am Falkenstein, werden verschont bleiben. Aber schnell muss es gehen. Wer zwei Laib Brot unterm Arm hat und verliert einen, der soll ihn liegen lassen und laufen, denn der eine Laib wird ihm auch reichen.«
    »Der Waldprophet«, sagte Nora. »Und ziemlich durcheinander zitiert.«
    Die junge Frau mit den langen dunklen Locken sah auf. »Was?«
    »Das sind die Prophezeiungen des Mühl-Hiasl, auch genannt der Waldprophet«, erläuterte Nora Mattek freundlich. »Ich habe an den ganzen Kram auch mal geglaubt, wissen Sie? Genau wie an die Weissagungen des Alois Irlmaier, die Prophezeiung von der Weltschlacht am Birkenbaum, die Geschichte des westfälischen Schäfers, die Voraussagen des Spielbernd, die Mainzer Prophetie, das dritte Geheimnis von Fatima, und so weiter und so weiter.«
    »Ehrlich?«, staunte Thilo.
    »Ja«, nickte seine Mutter. »Aber das ist lang her.«
    Thilo strich sich die Haare aus der Stirn. »Cool.«
    Sybilla war auf ihrem Sitz zusammengesunken. Sie starrte ins Leere. Schatten schienen über ihr Gesicht zu huschen. »Ich sehe nichts mehr«, flüsterte sie plötzlich, Angst in der Stimme. »Ich habe gesehen, dass es beginnt. Ich bin losgefahren, zu euch. Aber nun sehe ich nichts mehr. Ich habe eine Tür gesehen, die aufging – aber dahinter ist nur Leere.«
    »Und da haben Sie sich an alte Prophezeiungen gehalten«, meinte Nora.
    »An irgendetwas muss man sich doch halten.«
    »Ich weiß nicht. Ich finde Leere nicht so schlimm. Leere – das ist irgendwie … vielversprechend.«
    Sybilla schwieg. Draußen wurde es allmählich dunkel. Im Wagen begann es ungemütlich kalt zu werden. Es gab eine Standheizung, aber die hatte sie nicht eingeschaltet, um die Vorräte zu schonen. »Mein Leben lang habe ich immer gewusst, was passieren wird«, begann sie schließlich. »Das ist etwas, woran man sich gewöhnt …«
    »Du hättest Lotto spielen sollen«, warf Thilo spitzfindig ein. Sie maß ihn mit geduldigem Blick. »Solche Dinge nicht. Ob jemand im Lotto gewinnen wird, das ist Schicksal, das kann man sehen -aber nicht seine Zahlen, nicht das genaue Datum. Mein Schicksal war es nicht, das habe ich gesehen. Aber ihn« – sie deutete auf Kelwitt, der erbarmungswürdig schief auf seiner Wachstischdecke saß
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