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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern
Autoren: Andreas Eschbach
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-»habe ich nicht gesehen.« Sie schnüffelte, als gäbe es etwas zu riechen. »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Habe ich bloß meine Gabe verloren? Oder hat sich die Zukunft verändert? Ist der Lauf der Zeit unvorhersagbar geworden?«
    Nora betrachtete die junge Frau nachdenklich. Als sie sie nur vom Hörensagen gekannt hatte, hatte sie nur die Verderberin ihres Sohnes in ihr sehen können. Doch in den letzten Stunden hatte sie sie auf merkwürdige Weise liebgewonnen.
    »Ja«, nickte Sybilla. »Vielleicht ist es das. Wenn sich alles ändert, wenn die alte Welt endet – vielleicht werden dann auch die alten Prophezeiungen ungültig …«
    Es wurde wirklich immer kälter, und der Wald rings um den Wanderparkplatz begann unheimlich zu werden. Nora schlang ihre viel zu dünne Jacke fester um sich. »Auf jeden Fall sollten wir allmählich überlegen, was wir tun. Wir können nicht ewig hier herumsitzen.«
    »Schlagen Sie etwas vor. Ich muss mich erst an diesen Zustand der Ungewissheit gewöhnen.«
    »Wir sollten uns ein Hotel suchen. Vielleicht eines an der Autobahn, das so ähnlich wie amerikanische Motels gebaut ist. Dort dürfte es leichter sein, Kelwitt hineinzuschmuggeln.«
    »Das ist teuer.«
    »Ich habe genug Geld dabei«, erklärte Nora. »Ein Glück, dass Thilo der Lieferwagen vor dem Haus rechtzeitig aufgefallen ist. So hatten wir ein wenig Zeit, uns vorzubereiten.«
    »Glück«, nickte Sybilla. »Ich verstehe.«
    Nora zog ihr Adressbüchlein aus der Jackentasche. »Von dort aus – oder von einer Telefonzelle – kann ich versuchen, ein paar Bekannte zu erreichen. Vielleicht finden wir einen Arzt, der sich um Kelwitt kümmert, ohne dass jemand davon erfährt.«
    »Gut, von mir aus.« Sybilla beugte sich zum Handschuhfach hinüber und zog eine Straßenkarte heraus. »Irgendwelche besonderen Wünsche, wohin es gehen soll?«
    In diesem Augenblick ging ein Ruck durch Kelwitt. Er setzte sich kerzengerade hin, die Hand an der Schulterspange, und sein Atemloch auf dem Scheitel bewegte sich heftig. Draußen in der Dunkelheit heulten namenlose Tiere auf. Offenbar hielt er heftige Zwiesprache mit Tik, seinem Computer.
    »Es ist da«, erklärte er dann. Man konnte sich einbilden, in der mechanischen Stimme Erleichterung mitschwingen zu hören. »Das Raumschiff ist gekommen, um mich abzuholen.«
    Der für das Abhören des Gefangenenzimmers zuständige Agent hielt Hermann Hase das Handtuch hin, als erwarte er, damit erdrosselt zu werden. »Offenbar war es nur Seifenschaum und alles vorgetäuscht. Sie haben die Gelegenheit genutzt, um – vermutlich über das Garagendach – zu fliehen.«
    »Na endlich«, erwiderte Hase. »Und wie phantasievoll! Ich dachte schon, ich muss sie freilassen.«
    Der Agent mit dem seifigen Handtuch bekam Kulleraugen. »Heißt das, Sie haben …?«
    Hase schaute zu einem anderen Mann hinüber, der mit Kopfhörern an einer Funkanlage hockte. »Wie ist der Empfang?«
    Der Mann machte mit den Fingern das O.K.-Zeichen. »Sie haben Peilsender in den Schuhen und Abhörmikrophone in den obersten Jackenknöpfen. Alle arbeiten einwandfrei.«
    »Wo sind sie gerade?«
    »In der Nähe des Raumschiffs. Wenn sie das Dorf verlassen, müssen wir ihnen ein Auto mit Relaisstation nachschicken, aber es sieht nicht danach aus.«
    »Also«, nickte Hase dem Abhörspezialisten zu. »Sie sehen, Sie behalten Ihren Job.«
    Die aufgestemmte Kellertür hatte er behelfsmäßig zugenagelt. Die umgefahrene Hecke hatte er versucht, wieder aufzurichten, aber die Äste waren abgebrochen, und dann war ein Nachbar gekommen, mit dem er noch nie im Leben gesprochen hatte, und hatte ihm erzählt, was vorgefallen war – eine Schießerei, eine Massenkarambolage, Hubschrauber und ein Feuerwerk wie aus einer Stalinorgel. Und eine Flucht in einem grauen Campingbus.
    Das gab ihm zu denken, während er den Karpfen ungeschickt in eine Schüssel bugsierte und hilflos in den Kühlschrank stellte. Was war geschehen? Warum rief ihn niemand an? Wer war in dem Campingbus gewesen?
    Er hätte zur Polizei fahren können, aber der Gedanke, das Haus wieder zu verlassen, versetzte ihn beinahe in Entsetzen. Dass niemand kam, um ihn zu befragen, zu verhören …? Es war alles so unwirklich. Als hätten sich einfach alle Menschen in Nichts aufgelöst und ihn allein zurückgelassen.
    Draußen wurde es dunkel. Silvester, es war ja Silvester. Ab und zu krachte ein verfrühter Böller, jaulte ein voreiliger Heuler, und dann fiel es ihm wieder ein.
    So ruhig
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