Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Land für alte Männer

Kein Land für alte Männer

Titel: Kein Land für alte Männer
Autoren: Cormac McCarthy
Vom Netzwerk:
irgendwie darauf gewartet, dass das alles von allein weggeht, aber das ist natürlich nicht passiert. Ich glaub, das war mir schon klar, als es angefangen hat. Ich hab gleich so ein Gefühl gehabt. Als würd ich da in was reingezogen, wo der Weg zurück ziemlich lang dauern würde.
Als er mich gefragt hat, warum das jetzt nach so vielen Jahren plötzlich hochgekommen ist, hab ich gesagt, es war die ganze Zeit da gewesen. Ich hätte es bloß größtenteils ignoriert. Aber er hat recht, es ist hochgekommen. Ich glaub, manchmal hätten die Leute lieber eine schlechte Antwort auf irgendwas als überhaupt keine. Als ich es erzählt hab, da hat es eine Form angenommen, die ich nicht vermutet hätte, also hat er in der Beziehung auch recht gehabt. Das ist wie das, was mir mal ein Baseballspieler gesagt hat, er hat gesagt, wenn er irgendeine leichte Verletzung hat, die ihn ein kleines bisschen stört, ihm ein bisschen lästig ist, dann spielt er im Allgemeinen besser. Sie sorgt dafür, dass er sich auf eine Sache konzentriert anstatt auf hundert. Das leuchtet mir ein. Nicht, dass es irgendwas ändert.
Ich hab gedacht, wenn ich nach so strengen Grundsätzen leben würd, wie’s nur geht, dann würd mir nie wieder was passieren, was mir dermaßen zusetzt. Ich hab mir gesagt, ich war damals einundzwanzig und man kann mal einen Fehler machen, besonders wenn man daraus lernt und ein Mann wird, wie man ihn sich vorstellt. Aber da hab ich mich getäuscht. Jetzt hab ich vor aufzuhören, und das liegt zum großen Teil daran, dass ich weiß, man wird mich diesen Mann nicht jagen lassen. Ich nehm mal an, dass es ein Mann ist. Man könnte also zu mir sagen, ich hätt mich kein Jota geändert, und ich wüsst nicht, was ich dagegen einwenden könnte. Sechsunddreißig Jahre. Das macht einem schon zu schaffen.
Noch was, was er gesagt hat. Wenn einer ungefähr achtzig Jahre lang drauf gewartet hat, dass Gott in sein Leben tritt, dann würd man doch meinen, dass der dann auch kommt. Wenn nicht, müsste man trotzdem davon ausgehen, dass er weiß, was er tut. Ich weiß nicht, wie man Gott anders beschreiben könnte. Letztlich läuft’s darauf raus, dass diejenigen, zu denen er gesprochen hat, es wohl am nötigsten gehabt haben. Das ist nicht so einfach zu akzeptieren. Zumal wenn es für jemand wie Loretta gelten könnte. Aber vielleicht schauen wir ja alle durchs falsche Ende vom Fernglas. Und zwar schon immer.
Tante Carolyns Briefe an Harold. Dass sie sie gehabt hat, lag daran, dass er sie aufbewahrt hatte. Sie hat ihn großgezogen und war ihm wie eine Mutter. Die Briefe hatten Eselsohren, waren zerfleddert und verdreckt und was weiß ich noch alles. Mit den Briefen hat es Folgendes auf sich. Erstens hat man gemerkt, dass das einfache Leute vom Land waren. Ich glaub nicht, dass er je aus Irion County rausgekommen war, geschweige denn aus Texas. Aber das Interessante an den Briefen ist, man kann daran ablesen, dass es die Welt, die sie sich für ihn nach seiner Rückkehr gewünscht hat, gar nie geben konnte. Heute ist das leicht zu erkennen. Ungefähr sechzig Jahre später. Aber die hatten einfach überhaupt keine Vorstellung. Man kann sagen, es gefällt einem oder es gefällt einem nicht, aber ändern tut man damit gar nichts. Ich hab meinen Deputys mehr als einmal gesagt, man bringt in Ordnung, was man in Ordnung bringen kann, und den Rest lässt man bleiben. Wenn man nichts dran machen kann, ist es ja nicht mal ein Problem, sondern bloß ein Ärgernis. Und die Wahrheit ist, ich hab genauso wenig Ahnung von der Welt, die sich da draußen zusammenbraut, wie Harold damals.
Wie sich dann allerdings rausgestellt hat, ist er nie mehr nach Hause gekommen. In den Briefen steht nichts, was darauf hindeutet, dass sie mit dieser Möglichkeit gerechnet hat.
Aber das hat sie natürlich. Bloß hat sie ihm nichts davon sagen wollen.
Den Orden hab ich natürlich immer noch. Den gab’s in einer schicken dunkelroten Schatulle mit einem Band und allem Pipapo. Er hat jahrelang in meinem Schreibtisch gelegen, bis ich ihn eines Tages rausgenommen und in die Schublade vom Wohnzimmertisch gelegt hab, da musst ich ihn wenigstens nicht mehr anschauen. Nicht, dass ich ihn je angeschaut hab, aber er war eben da. Harold hat keinen Orden gekriegt. Er ist einfach in einer Holzkiste nach Hause gekommen. Und ich glaub zwar nicht, dass es im Ersten Weltkrieg Mütter mit Gold Star gegeben hat, aber wenn, dann hätte Tante Carolyn auch keinen gekriegt, weil er nämlich nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher