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Kein Erbarmen

Kein Erbarmen

Titel: Kein Erbarmen
Autoren: Gerold , Haenel
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Taboris Blick wanderte weiter, längst davon überzeugt, dass sich nicht wirklich etwas verändert hatte. Umso mehr zuckte er unwillkürlich zusammen, als er feststellte, dass die junge Frau mit der Sonnenbrille verschwunden war. Nur die Zeitung lag noch auf ihrem Platz, und der Wind blätterte die Titelseite in unregelmäßigen Abständen gegen die Kaffeekanne in ihrem silbern glänzenden Isoliermantel.
    Tabori stand auf. Wie zufällig suchte er sich seinen Weg zwischen den Tischen hindurch, bis er die Schlagzeile lesen konnte, dicke Lettern von roten Balken unterstrichen: DACKELMORD IM REIHENHAUS! Er brauchte einen Augenblick, bis er über den reißerisch-idiotischen Inhalt hinaus das begriff, was das eigentlich Wesentliche war: Er hatte eine deutsche Zeitung vor sich! Gleichzeitig erinnerte er sich plötzlich, die junge Frau heute nicht zum ersten Mal gesehen zu haben.
    Als er sich gestern mit Einbruch der Dämmerung zu der Gruppe bereits ausnahmslos alkoholisierter Dänen am Strand gesellt hatte, die um ein gewaltiges Feuer herum irgendeine Geburtstagsparty feierten und jeden weiteren Gast begeistert mit einer bereitwillig geöffneten Flasche Tuborg-Bier begrüßten, hatte für einen kurzen Moment eine Frau vor ihm gestanden, deren Kapuzen-T-Shirt ihm wegen dem großletterigen Aufdruck NIX IS BESSA aufgefallen war. Er hatte noch überlegt, wofür die drei Wörter wohl werben sollten, aber sein eher halbherziger Versuch, die Trägerin unter der Kapuze im flackernden Feuerschein näher auszumachen, wurde von einem laut singenden Dänen vereitelt, der schwankend fest entschlossen war, Taboris Schulter als willkommene Stützezu missbrauchen. Und als er den Dänen mit einiger Mühe wieder losgeworden war, war auch das Kapuzen-Shirt in der Menge verschwunden.
    Aber er war sich jetzt sicher, dass das Kapuzen-Shirt und die junge Frau mit der Sonnenbrille ein und dieselbe Person waren. Und im Nachhinein schien es ihm, als wäre die Begegnung gestern Abend nicht zufällig gewesen, als hätte die Frau bewusst seine Nähe gesucht und dann vielleicht den Mut verloren …
    Was soll das, dachte er, du fängst schon wieder an! Du machst dich lächerlich. Niemand hat dich beobachtet. Niemand will irgendwas von dir. Du bist nicht der einzige deutsche Tourist hier, so einfach ist das. Und der Rest ist Einbildung. Wahrscheinlich nichts weiter als dein eigenes Wunschdenken, das dir einen Streich spielt. Und da die Blonde schon an die Glatze vergeben ist, phantasierst du dir irgendein Interesse an dir von der jungen Frau mit der Sonnenbrille zurecht. Das ist echt armselig! Hör auf mit dem Quatsch, oder du findest dich über kurz oder lang in der geschlossenen Abteilung des nächsten Landeskrankenhauses wieder, wo du dich dann für den Rest deines Lebens von blonden Pflegerinnen verfolgt wähnst. Paranoid nennt man so was, und es ist alles andere als witzig!
    Unwillig zuckte er mit der Schulter und kehrte der Terrasse den Rücken. Auf den Stufen zum Hotel kam ihm Elsbet entgegen, sie nickte ihm freundlich zu, während sie gleichzeitig einem Bedienmädchen irgendwelche Anweisungen gab.
    »Blauer Himmel«, sagte sie, als er schon fast an ihr vorüber war. »Sönes Wetter.«
    »Ja. Ich werde vielleicht swimmen gehen.« Es war ihm einfachso rausgerutscht, er hatte Elsbet nicht veralbern wollen, im Gegenteil, er fand ihre dänische Aussprache höchst charmant. Zum Glück hatte sie scheinbar nichts bemerkt.
    »Sei vorsichtig«, sagte sie nur. »Es ist eine starke Strömung.«
    »Ich passe auf«, versprach Tabori.
    Er griff sich seinen Schlüssel vom Brett hinter dem Empfangstresen und stieg die schmale Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Auf dem Gang stolperte er fast über einen Wischeimer, im Nachbarzimmer hörte er das Zimmermädchen mit dem Staubsauger hantieren. Als er die Tür aufmachte, sah er den Briefumschlag auf dem Fußboden. Er bückte sich.
    Hauptkommissar Tabori
, las er die auffällig schräg gestellten Buchstaben.
Persönlich
. Der Umschlag sah aus, als hätte ihn jemand schon länger mit sich herumgeschleppt, die Kanten waren verknickt, es gab weder eine Marke noch einen Poststempel, auf der Rückseite war der Abdruck einer Kaffeetasse. Kein Absender …
    Im selben Moment klingelte sein Handy. Tabori legte den Briefumschlag auf die Bettdecke und fischte das Handy aus der Lederjacke, die er noch über der Schulter trug.
    »Ja?«
    Rauschen. Dann knackte es. Von weit entfernt hört er eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Stimme:
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