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Kein Erbarmen

Kein Erbarmen

Titel: Kein Erbarmen
Autoren: Gerold , Haenel
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die, von rostigen Traktoren auf den Sand gezogen, wie gestrandete Meeresvögel wirkten und als beliebtes Fotomotiv dienten, zum Beweis, dass die Studienräte samt Familie tatsächlich da gewesen waren. Aber seit die Nordsee so gut wie leer gefischt war, waren auch die Kutter verschwunden, und Taboris buttersoßengetränkte Scholle kam jetzt per Kühllaster von wer-weiß-woher.
    Tabori genoss es jedes Mal aufs Neue, kein Wort von dem zu verstehen, was um ihn herum gesagt wurde, die Gäste des Strandhotels waren zu dieser Jahreszeit nahezu ausnahmslos wieder Dänen, und seine Dänischkenntnisse beschränkten sich mehr oder weniger auf ein paar Begriffe aus der Speisekarte und das unvermeidliche »tak« und »farvel« abends nach einem letzten Aquavit. Aber das machte die Sache einfach, er lief kein Risiko, mit irgendjemandem reden zu müssen oder in Gespräche verwickelt zu werden, die er nicht führen wollte.
    Doch gerade jetzt hatte er das unklare Gefühl, beobachtet zu werden, wie ein Kribbeln im Nacken, das ihn nervös machte. Er war lange genug bei der Polizei gewesen, um ohne Probleme aus dem Gedächtnis die Gäste aufzählen zu können, die auf der Terrasse gesessen hatten, als er sich seinen Platz möglichst weit weg von den anderen suchte. Meist ältere Ehepaare, ein einzelner Mann mit Pfeife, zu dessen Füßen sich ein Border Collie in der Sonne räkelte, eine junge Frau, die ihr Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckte.
    Die junge Frau hatte als Einzige Zeitung gelesen, die meisten der anderen Gäste hatten ein Buch vor sich gehabt und waren in ihrer eigenen Welt versunken. Einmal war ein Motorradfahrer vom Parkplatz herübergekommen, mit einer neongrünen Warnweste über der Lederjacke, so dass Tabori im ersten Moment gedacht hatte, er wäre vielleicht ein Streifenpolizist. Nach einem kurzen Blick in die Runde war er wieder auf sein Motorrad gestiegen und davongefahren. Und Tabori hatte weiter dem Pärchen hinter sich zugehört, das halblaut eine erregte Diskussion führte. Ein Typ mit wie poliert spiegelnder Glatze und Harley-Davidson-T-Shirt und eine Blondine mit hochgesteckten Haaren und weit ausgeschnittener Bluse. Tabori hatte den sicheren Verdacht gehabt, dass die Blonde für die schlaflose Stunde verantwortlich sein musste, während der er in der letzten Nacht ihr durch die Holzdielen kaum gedämpftes Stöhnen gehört hatte, das schließlich in einer Reihe heiserer Aufschreie gipfelte.
    Ich bin schon zu lange allein, hatte Tabori in seinem Bett gedacht und dachte es auch jetzt wieder, das tut mir nicht gut, das lässt mich sogar schon neidisch auf eine Glatze im Harley-Davidson-T-Shirt werden! Was ist los mit dir, Alter?Und was soll das mit diesem Gefühl, dass dich irgendjemand beobachtet? Hör auf damit, du bist kein Bulle mehr, du bist weit weg von allem, niemand will hier etwas von dir, niemand außer Elsbet kennt dich hier, und auch Elsbet ahnt nur, dass du die Anonymität zu schätzen weißt, die die paar Tage in ihrem Hotel dir gewährleisten. Du bist endlich da, wo du schon immer sein wolltest: Ein Privatier, frei von jeder Verantwortung, genieß es! Du bist jetzt 48 Jahre, du hast noch kaum ein graues Haar, du zeigst keinerlei Tendenz, fett zu werden, die meisten Leute würden dich ohne Zögern als attraktiv bezeichnen, du rauchst nur zu viel, und du musst ein bisschen mit dem Alkohol aufpassen, aber sonst ist alles perfekt, du hast noch viel vor dir!
    Aber du bist alleine, meldete sich gleichzeitig eine innere Stimme, du hast keine Frau, du hast keine Kinder, du hast niemanden, der zu Hause auf dich wartet, du bist am Ende, Kumpel! Was nützt dir deine ganze Freiheit, wenn du sie nicht genießen kannst, weil du in Wirklichkeit nichts bist als ein ehemaliger Bulle, ein einsamer Wolf, der nicht weiß, womit er seine neu gewonnene Zeit totschlagen soll, und dessen berufsbedingte Paranoia ihn selbst hier noch verfolgt und Gespenster sehen lässt, die es nicht mehr gibt …
    Ruckartig drehte Tabori den Kopf. Die Szenerie war die gleiche wie vor einer halben Stunde, nur der Border Collie verfolgte jetzt mit gespitzten Ohren den Flug der heiser krächzenden Möwen, als könnte sich da womöglich eine – wenn auch zweifellos schwierige – Aufgabe für seinen Hüteinstinkt abzeichnen. Die Blonde hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und hielt ihr Dekolletee in die Sonne, die Glatze schob sich unbeeindruckt eine neue Zigarette zwischen dieLippen, um sie an der Kippe der alten anzuzünden.
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