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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition)
Autoren: Jürgen Magister
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unglaublicher Präzision traf sie einen der Aasfresser und verschwand so schnell wieder im Maul, wie sie herausgeschossen war. Das Urtier begann, gemächlich zu kauen, während es den zweiten Vogel anvisierte. Laut krächzend versuchte der, außer Reichweite des mörderischen Fleischbergs zu fliehen. Doch vergebens. Das Schauspiel wiederholte sich. Auch er verschwand im Maul der Echse. Und dann sah Sando, wie die Kugelaugen gemächlich wieder auf ihn einschwenkten – erst das eine, dann das andere.
    So also geht es zu Ende , dachte er, wie eine Fliege zermalmt im Maul eines Monsters. Er fiel auf die Knie, krampfte seine Finger um Marias Medaillon und schloss die Augen. Um ihn her wehte der ewige Wind. Ungerührt pfiff er sein altes Lied, begleitet vom Knacken der Vogelknochen. Noch kaute das Ungeheuer, doch dann – nach einer halben Ewigkeit – war da nur noch der Wind. Nun musste sie unweigerlich kommen, die Zunge.
    „He, Bub! Musst keine Angst haben, die Josi tut keinem was“, sagte plötzlich eine Männerstimme mit einem Anflug von Wiener Dialekt.
    Ein Wiener, in dieser Wüste im Jenseits? Sando glaubte, wahnsinnig geworden zu sein. Er öffnete die Augen.
    Vor ihm stand ein Mann, der ihm eine Flasche hinhielt. „Hier! Trink einen Schluck, schaust ja ganz verdurstet aus.“
    Sando griff schnell zu. Darüber nachdenken, ob er das alles nur träumte, konnte er auch, nachdem er getrunken hatte. Der Durst war das Schlimmste. Er setzte die Flasche an. Sie war keine Fata Morgana. Es gluckerte angenehm. Wasser rann ihm durch die Kehle, körperwarm zwar, aber er schluckte und schluckte, bis die Flasche keinen Tropfen mehr hergab.
    „Danke“, sagte er dann.
    „Schon gut“, erwiderte der Mann und musterte Sando ungeniert von oben bis unten. „Schau an, welch properer Bub! Bist wohl neu hier, eben erst angelangt, wie?“
    Er bemerkte Sandos verunsicherten Blick auf das Chamäleon, das immer noch am selben Fleck stand, jetzt aber nicht mehr den Jungen fixierte, sondern die Augen zum Himmel drehte.
    „Das ist meine Josi“, erklärte der Mann mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. „Ein ganz liebes Tier. Sie hat noch niemandem was zuleide getan.“
    „Josi?“ Sando war verblüfft über solch einen Namen für dieses Monstrum.
    „Ja, freilich, Josi. Magst den Namen nicht?“
    „Doch schon … Er ist irgendwie … nett.“
    „Und ich bin der Stadlmeyr Franz. Willkommen in Katharsia!“ Er streckte Sando die Hand entgegen.
    Sando nahm sie und sagte: „Ich heiße Sando … Sando Wendelin.“
    „Bist aus Deutschland?“
    „Ja, aus Dresden.“
    „Na, das ist ja reizend!“ Stadlmeyr klatschte vergnügt in die Hände. „Das kenn ich. Da bin ich mal gewesen. Das Bier war gut. Wie hat’s gleich geheißen? Ach, egal …“ Er winkte ab, ging hinüber zu dem Blasenrest und begann, ihn sorgfältig zusammenzurollen. Als er damit fertig war, klemmte er sich das Zeug unter den Arm.
    „Warum nehmen Sie das mit?“, wollte Sando wissen.
    „Den Kokon? Den werd ich doch hier nicht liegen lassen. Es wäre jammerschade drum.“
    „Warum? Was ist daran so Besonderes?“
    „Er lässt keine Seele durch. Das wirst du doch gemerkt haben, oder?“
    „Ja“, sagte Sando knapp. Ungern erinnerte er sich an seine verzweifelten Versuche, sich aus diesem Kokon zu befreien.
    „Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte er. „Sie sagten ,Kanasia‘?“
    Stadlmeyr lachte laut auf. „ Katharsia heißt das. Weiß der Teufel warum …“
    „Und wo liegt Katharsia?“
    „Ach geh, Bub, so was darfst du mich nicht fragen. Die ganz Schlauen reden von einer Parallelwelt. Aber wie man’s auch nennen mag, eines steht fest: Das Erdenleben ist passé hier.“
    Der Mann nahm Sando bei der Hand und zog ihn mit sich, bis sie schließlich so nahe bei der Echse standen, dass Sando Angst hatte, das Tier könnte sie unversehens mit dem Schlenker eines Beines zertreten.
    „Komm, ich bring dich zu wem, der für Neue wie dich zuständig ist!“
    Josis Rachen schwang über ihren Köpfen, sodass die Schuppen in ihren Halsfalten geräuschvoll aneinanderstießen. Franz trat dicht an Sando heran, den Kokon unter dem Arm. Unangenehmer Schweißgeruch stieg dem Jungen in die Nase.
    „Spreiz die Arme, Bub!“, sagte Franz. „Schau! Mach es wie ich!“
    „Josi, aaaufsiiitzeeen!“, rief er, indem er die Vokale eigenartig dehnte, und aus dem Rachen des Urtieres kroch – diesmal sehr langsam – die schreckliche Zunge. Gleich einer Schlange wand sich der
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