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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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Her mit der Knete, dann bin ich weg!
    So in etwa. Obwohl, ich glaube, ich singe es doch falsch. Ich habe kein Musikgehör, ich bin eine musikalische Niete. Wenn ich in einer Runde mitsinge, hören alle anderen sofort auf und schauen mich mitleidig an. Wenn ich eine bekannte Melodie nachpfeife, kann sie niemand erkennen, und eine Gitarre zu stimmen gelingt mir auch nicht, obwohl ich als Kind von meinen Eltern zum Musikunterricht verdonnert wurde. Im Nachhinein bin ich ihnen dafür sehr dankbar. Ich habe zwar wenig gelernt, aber mich in die Musik verknallt. Es war die erste große Liebe meines Lebens.
    Mit zwölf Jahren ging eine merkwürdige Verwandlung in mir vor: Aus einem mittelmäßigen, aber doch fleißigen und zurückhaltenden Schüler wurde ein frecher, großkotziger Außenseiter. Ich nervte alle Lehrer mit sinnlosen verbalen Angriffen, stellte dauernd ihr Fachwissen in Frage und fand das gesamte Schulpersonal blöde. Ich habe den Tanzunterricht verweigert, ging nach der Schule aber nicht nach Hause und machte keine Hausaufgaben, stattdessen hing ich mit anderen Jungs meist in der Sackgasse hinter dem Kaufhaus herum. Dort beschleunigten die Arbeiter ihren Arbeitstag in der Mittagspause mit Portwein. Die Sackgasse war eine Art Club, ein Treffpunkt der Außenseiter unseres Bezirks, von denen die meisten Alkoholiker waren oder auf dem Weg dahin. Unsere Klassenlehrerin machte sich große Sorgen um mich und besuchte meine Eltern in ihrer Freizeit. Sie meinte: »Nichts kann einem jungen Mann so viel Anstand und Feingefühl verleihen wie die Musik. Kaufen Sie Ihrem Sohn ein Klavier, und schicken Sie ihn zur Musikschule, bevor er sich zu einem Kriminellen entwickelt!«
    Mein Vater hielt nichts von dieser Idee. Seit Jahren sparte er auf einen jugoslawischen Dreiflammen-Gasherd, auf eine Liege mit Seetangfüllung und auf einen Farbfernseher. All seine Prämien und zusätzlichen Nebeneinkünfte waren bis zur Jahrtausendwende fest verplant. Die Anschaffung eines Klaviers stellte die ganze Zukunft unserer Familie in Frage. Aber andererseits trauten sich meine Eltern auch nicht, ganz auf meine Erziehung zu verzichten und das Erwachsenwerden ihres einzigen Sohnes vollständig dem Schicksal zu überlassen.
    Mein Vater fand einen Kompromiss: Statt eines Klaviers kaufte er mir eine Gitarre für sechzehn Rubel und meldete mich zum Gitarrenunterricht im Kulturclub »Medik« (Mediziner) an. Der Club befand sich genau zwischen unserer Schule und dem Irrenhaus in der Akademiker- Pawlow-Straße, und der Leiter des Kurses, ein schnurrbärtiger Geigenspieler namens Lermontow, war ein erfahrener Pädagoge. Wie ein Zauberer verwandelte er gelangweilte zwölfjährige Faulenzer in begeisterte Gitarrenspieler. Lermontow unterhielt sich erst einmal eine halbe Stunde lang mit mir, wobei er mir höflich dann Recht gab, dass bei uns in der Schule nur Mist gelehrt würde und dass meine Gitarre ein Billigprodukt sei, dafür jedoch einen superstarken Klang habe, und ferner, dass ich zwar keine Spur von einem musikalischen Gehör besäße, es darauf aber auch gar nicht ankäme. Wichtig war allein, die richtigen Akkorde auf dem Gitarrengriff auswendig zu lernen und dann einfach kräftig in die Saiten zu hauen. Dann schrieb mir Lermontow auf einem Stück Papier die drei Akkorde auf, die notwendig waren, um mein Lieblingslied »Ich leere mein Leben wie ein Glas« spielen zu können. Das war die Hymne unserer Sackgasse.
    Meine Klassenlehrerin hatte also wohl doch Recht gehabt: Ich bekam die magische Kraft einer musikalischen Ausbildung in vollem Ausmaß zu spüren. Die Sechzehn-Rubel-Gitarre veränderte mein Leben. Auch in der Schule wurde ich ruhiger. Nach dem Unterricht rannte ich sofort nach Hause, schnappte mir die Gitarre und lief zum Club »Medik«. Dort saß ich dann zusammen mit anderen Jungs in der Garderobe, haute in die Saiten und schrie:
    Mein Leben ist leer Wie ein leeres Glas, Wie ein letzter Schluck Des Weins Rose-Kavkas...
    Nach zwei Monaten wollten meine Freunde und ich noch ein zweites Lied zusammen lernen, aber Lermontow fiel keines ein. Er meinte: »Wozu zum Teufel braucht ihr noch ein Lied, wenn ihr dieses eine noch nicht mal bis zum Ende geschafft habt?« Also blieben wir bis auf weiteres bei unserem Lieblingslied. Es war ein gutes Lied, und alle wa
    ren glücklich: Lermontow, die Eltern, die Klassenlehrerin, die Schule und ich auch. Das war im Jahr 1979, ich hatte noch nie etwas von Rock 'n' Roll gehört. Im Schwarzweißfernseher
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