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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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schweren Blick und eine starke Ganzkörperbehaarung. Ob sie jemals Freunde sein können?
    Kaum in Berlin angekommen, versanken wir im Meer des revolutionären Kampfes: Auf dem Alexanderplatz protestierten etliche Menschen aus Togo gegen die deutsche Abschiebepolitik und gegen ihren Diktator Eyadema; die Kurden forderten einen unabhängigen Staat, und die Gruftis veranstalteten einen »Geistertanz gegen rechte Gewalt«. Überall standen die Ordnungshüter in modischen, gebügelten Uniformen herum und warteten auf eine Eskalation. Ich erzählte einem Bekannten die Geschichte von den zwei Winnie Pus, wie unterschiedlich sie sind.
    »Wer ist Winnie Pu? Ich kenne nur Snoopy und die Peanuts«, wunderte er sich.
    »Wer ist denn Snoopy?«, fragte ich.
    »Und wo liegt eigentlich Togo?«, fragte mich meine Frau.
     
    Afrika
     
    Mein englischer Freund Alan ist ein großer Tanzliebhaber und redet auch gerne darüber. Das Tanzen soll gut für die Gesundheit sein, behauptet er, es heilt die Psyche und stärkt die Muskeln. Deswegen nimmt Alan das große Berliner Tanzkursangebot in Anspruch, jeden Tag geht er irgendwohin, um einen neuen Tanz zu lernen: Wiener Walzer, Tango, Salsa, Samba, Rumba oder Cha-Cha-Cha.
    Außerdem wundert er sich stets, dass ich nicht mittanzen möchte. »Ein DJ ist doch fast ein Tanzlehrer! Abgesehen davon, kommst du doch aus dem Land des Tanzes und des Balletts, es muss für deine russische Seele ein Bedürfnis sein zu tanzen! Wie heißt es in dem berühmten russischen Rap-Song? >Wir tanzen auf den Tischen, sie tanzen auf den Tischen!««
    Ich konnte mich an das Lied nicht erinnern. Aber in einem Punkt hatte Alan Recht! Ich komme tatsächlich aus dem Land des Balletts und bin deswegen tanzgeschädigt. In der Sowjetunion wurden wir oft als Minderjährige zum Tanzen gezwungen. Speziell in meiner Schule Nr. 712 war dafür eine Einrichtung zuständig, die den Namen »Der Kreis des Volksballetts« trug. Alle Kinder, mit denen die Eltern nach der Schule nichts anfangen konnten, landeten zwangsläufig in dieser Arbeitsgruppe.
    Und jede Schule hatte ihre eigene Choreografie. Im VolksballettKollektiv unserer Schule Nr. 712 wurde Jahr für Jahr eine Tanzsuite namens »Die Eroberung des Nordpols« einstudiert und auch regelmäßig im großen Sportsaal im Erdgeschoss aufgeführt. Dazu wurden die Tänzer in zwei Gruppen aufgeteilt, in »Pinguine« und »Matrosen«. Alle Neuankömmlinge mussten den Part der Pinguine übernehmen. Die Vögel mussten zuerst im Kreis am Nordpol sitzen, um dann plötzlich, wenn die Matrosen auftauchten, mit ihren Stummelflügeln zu winken und möglichst schnell auseinander zu rennen. Wenn man ein Jahr lang den Pinguin getanzt hatte, durfte man zu den Matrosen überwechseln.
    Sie hatten einen etwas komplizierteren Tanz zu absolvieren, mit vielen Drehungen, Sprüngen und anderen ballettähnlichen Gesten.
    Das Volksballett-Kollektiv war eine Klassengesellschaft. Die Pinguine waren die Unterdrückten, sie hatten ständig mit ihren muffigen, schweren Kostümen zu kämpfen und mussten viel länger auf der Bühne schwitzen. Die Matrosen dagegen waren die Helden. Ihr Auftritt war kurz, aber eindrucksvoll. Sie wurden vom Publikum stets mit einem Applaus verabschiedet. Außerdem konnte man unter den Matrosen den einen oder anderen Freund erkennen, während die Pinguine die ganze Zeit nur als weiße, unförmige Klumpen dasaßen. Ich habe zwei Jahre lang am Nordpol gesessen und es nie zu einem richtigen Matrosen gebracht, deswegen habe ich jetzt auch keine Lust mehr auf Tanzunterricht. Wiener Walzer, Samba, Salsa, Rumba und Cha-Cha-Cha lassen mich kalt. Und überhaupt ist die weit verbreitete Meinung, dass die Russen gerne tanzen, ein Irrtum. Echte Russen tanzen nie! Außer wenn sie betrunken sind. Und in dem berühmten Lied »Wir tanzen auf den Tischen« geht es auch nicht so sehr ums Tanzen als ums Geld. Jetzt fällt mir dieser russische Rap-Song wieder ein:
    Die einen tanzen auf den Tischen,
    Suchen nach dem Kick,
    Die anderen engagieren sich für Politik.
    Wir sind für den Frieden, für Atomausstieg,
    Es wird keinen Sieger geben im nächsten Krieg.
    Ich habe die Nase voll von diesem Hamsterrad,
    Gebt mir ein bisschen Kohle! Ich haue ab!
    Ich kaufe mir einen Flügel und Saxofon, Ich werde spielen all alone
    Oder mit ein paar Freunden aus Chicago und Boston...
    Vielleicht kaufe ich ein Haus, Ein Haus im Wald, Dort werde ich glücklich, Dort werde ich alt.
    Ich habe keinen Bock auf täglichen Nepp,
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