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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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»Russische Zelle«, sie sollte damit einen Gegensatz zu der verkitschten russischen Seele bilden. Zusammen mit meinem Freund, dem ukrainischen Musiker Jurij Gurzhy, haben wir dann im Burger alte sowjetische Filme über den russischen Bürgerkrieg gezeigt, die ich synchron falsch übersetzte. Wir haben Lesungen und Konzerte organisiert und alle zwei Wochen eine Russendisko-Party veranstaltet, wobei wir die Musik des russischen Underground auflegten. Der Dichter, der Filmer und der Brigadier sorgten für den Rest des Programms. Mal engagierten sie einen Doppelgänger von Freddie Mercury, der in weißen Strumpfhosen durch den Laden sprang, ein andermal einen Aktionskünstler, der eine brennende EU-Flagge in seinem Arsch verschwinden ließ. Es war also immer was los. Jeden Tag fand im Burger etwas anderes statt. Man konnte nie wissen, was am nächsten Abend passieren würde. Manchmal spielte eine traurige Hardcore-Band, und am nächsten Tag standen junge Autoren auf der Bühne, die das Publikum beschimpften.
    Die neuen Chefs beschlossen, des historischen Wertes wegen die Kneipe nicht zu renovieren. Sie ließen alles so, wie es war, nur die Preise passten sie an die neue Zeit an, weil man von denen auf der alten DDR-Tafel nicht mehr leben konnte. Anfänglich diskutierten sie noch innovative Vorschläge, um sich dem westlichen Standard anzupassen: Sie wollten zum Beispiel eine regional verwurzelte Küche anbieten und kauften tonnenweise vakuumverpackte »Gulaschbriketts«, gaben aber die Küche nach den ersten Ausfällen wieder auf. Dann hatten sie die kreative Idee, einen kleinen Puff im Keller zu platzieren, fanden aber
    keine Frauen, die bereit waren, da unten zu arbeiten. Stattdessen quartierte sich dort ihr Elektriker ein. Sie beschlossen, alles beim Alten zu lassen.
    Die Tapete und das Lametta blieben also hängen, aber nach einem halben Jahr ging uns die osteuropäische Kultur aus: Wir wollten ja nur das Gute nehmen, und davon gab es im osteuropäischen Bereich nicht allzu viel. Darin unterscheidet sich die osteuropäische Kultur nicht von anderen Kulturen. Auch sie besteht zum größten Teil aus Projekten, mit denen man nichts zu tun haben will. Nur unsere eigene Russendisko blieb beständig. Die Filme waren schnell gezeigt, die Autoren alle schon dagewesen, die Musiker, die wir einluden, hatten entweder keine Lust oder besoffen sich, bevor sie die Bühne betraten. Nur unsere Russendisko funktionierte wie eine Rolex. Jurij und ich waren immer zur Stelle, immer nüchtern und immer mit einer Menge guter russischer Musik zum Abtanzen ausgerüstet. Die Schlange vor dem Kaffee Burger zog sich in die Länge und belebte die sonst eher ruhige Torstraße. Mal schwenkte unsere Schlange nach rechts, und aus einem Pleite gegangenen Holzteller-Grillrestaurant wurde eine neue Burger-Bar. Dann schwenkte unsere Schlange nach links, und aus einer ehemaligen Schusterwerkstatt entstand der »Club der polnischen Versager«, mit einem Salon und einer Plakatausstellung sowie einem Musikladen. Dann schwenkte die Schlange noch weiter nach rechts, und aus dem türkischen Imbiss an der Ecke wurde ein schickes Restaurant. Noch mehr nach links, und alle Katzen aus dem Zoogeschäft fanden einen neuen Besitzer.
    Der Dichter, der Filmemacher und der Brigadier wurden dabei steinreich, was ihnen aber nicht nur Glück brachte. Beim Filmemacher meldete sich seine seit fünfzehn Jahren verschollene Ehefrau und machte ihre Ansprüche auf Lebensunterhalt geltend. Daraufhin vergrub er sein ganzes Geld im Burger-Keller und vergaß prompt, wo. Beim Anarcho- Dichter standen die alten Kreditgeber Schlange und wollten nun alles zurückhaben. Seine Erzfeinde, die Spiegel-Journalisten, meldeten sich ebenfalls - und wollten ein Interview haben. Der Brigadier heiratete, und seine Frau bekam ein Kind. Der Stasi-Offizier tauchte wieder auf und machte alle Servietten im Burger nass: »Warum bin ich damals nur nicht bei euch eingestiegen?«, jammerte er. Er machte dafür die ganze
    Bande von Neubesitzern verantwortlich. Frau Burger wiederum machte sich große Sorgen, zu wenig für ihre Kneipe bekommen zu haben. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit sprach sie den UPS- Brigadier darauf an.
    Das Burger wurde immer bekannter. In allen Reiseführern über Berlin wurde es als eine der Hauptattraktionen der Hauptstadt gepriesen, meist als »heterosexueller Aufreißschuppen«. In russischen Reiseführern stand das Burger allerdings in der Spalte »schwul und
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