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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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positive Texte zu schreiben. Hier zum Beispiel das Lied auf meiner neuen Platte!« Der Rapper drückte mir die Kopfhörer in die Hand. »Und hier ist der Text dazu, falls du ihn nicht verstehst.«
    Ich hörte mir seinen Song an und verglich das Gesungene mit dem Text auf dem Zettel. Alles stimmte überein. »Du sollst zu deinen Eltern gut sein, mach alles klar mit den Eltern und hör auf, sie zu nerven, die Schule ist wichtig, sei gut in der Schule, gib deinem Leben einen Sinn.«
    »Ganz toll machst du das«, sagte ich. »Du bist ein braver Rapper. Zum Glück bin ich seit fünfundzwanzig Jahren raus aus der Schule und habe mit meinen Eltern schon längst alles klar gemacht. Was willst du eigentlich von mir?«
    »Neulich habe ich einen Brief von einem Jungen bekommen«, erzählte der Rapper weiter. »Nachdem er mein Lied auf MTV gehört hatte, hat er sofort Frieden mit seinen Eltern geschlossen und dann die halbe Nacht vor Glück geweint! Er hat verstanden, dass seine Eltern nur immer das Beste für ihn wollten...«
    »Ob er auch in zwanzig Jahren noch so denkt?«, zweifelte ich. »Und sich nicht vorwirft: Herrgott noch mal, hätte ich nur damals diesem Plüsch-Rapper nicht zugehört und weiter mit meinen Eltern gekämpft, dann würde ich heute nicht als elender Steuerberater dastehen!«
    »Gute Vorbilder sind doch das Letzte, was ein junger Mensch braucht!«, unterstützte mich Jurij. »Er braucht Widerstandsgeist, um seine Vorstellungen durchzusetzen.«
    »Sehr interessant!«, sagte der Hamburger Journalist, guckte uns aber verblüfft an.
    »Ja, ich hatte zum Beispiel sehr schlechte Vorbilder«, erzählte ich weiter. »Jim Morrison, der Drogen verherrlichte, seinen Vater killen wollte und einen frühen Tod starb. Wir hörten ihm zu und dachten, also so schlimm wie dieser Morrison wollen wir nicht werden.«
    »Meine Vorbilder waren auch alles Versager«, erklärte Jurij: »Die Sex Pistols, Dead Kennedys, The Clash. Curt Cobain hat gesungen: >I hate myself
    and I want to die!< Oder unser Freund Eminem, der sogar seine allein
erziehende Mutter killen wollte.
    »Das Gute an schlechten Vorbildern ist, dass sie in der Regel früh
sterben und einen nicht das ganze Leben lang verfolgen«, fügte ich altklug hinzu. »Anders als dieses Beatles-Gespenst Sir Paul McCartney,
der den Sechzigjährigen den Traum von der ewigen Jugend vertickt!«
    »Eigentlich ist nur ein totes Vorbild ein gutes Vorbild!«, ergänzte Jurij.
    Gemeinsam rieten wir unserem Rapper, das mit der Verantwortung
sein zu lassen und weiter an seinen »Lutsch-meinen-Schwanz«-Texten
zu arbeiten. »Es kommt bei jedem Publikum gut an, wenn man darüber
singt, was einen wirklich bewegt.«
    Der Rapper schien ein wenig verunsichert zu sein. »Trotzdem, trotzdem, Jungs, ihr habt von der heutigen Jugendkultur wirklich keine Ahnung«, sagte er und schaute nachdenklich zwischen seine Beine. Unser
neuer Bekannter gefiel sich offensichtlich in der Rolle eines positiven
Vorbilds für die kommende Generation.
    Wir verabschiedeten uns, und die Gäste fuhren nach Hamburg zurück. Mich beschäftigte das Thema aber noch einige Stunden lang weiter. Denn das Interessante an dieser so genannten Jugendkultur ist, dass
all diese Raver, Punks und Skins irgendwann selbst Eltern werden. Und
wenn sie selbst Eltern werden, philosophierte ich weiter, was machen
sie dann zum Beispiel mit ihren Doc Martens? Schicken sie ihre Schuhe
nach Sri Lanka oder nach Russland als Entwicklungshilfe, oder geben
sie sie in die Humana-Läden zurück? Wie einst unser schlechtes Vorbild
aus St. Petersburg, Viktor Zoi, der vor zwanzig Jahren sang: »Schmeiß
deine Pantoffeln zum Fenster raus, Papa! Du warst einmal eine ganz
freche Maus, Papa!« An diesem Lied kann ich - nun selber Papa - ewig
weiterbasteln...
    Wo sind deine Schuhe von Doc Martens
    Wo hast du deine Glatze versteckt?
    Du warst doch früher ein Kind von der Straße,
    Heute suchst du bei den Kollegen Respekt.
    Du warst einmal ein Punk, Papa,
    Du warst einmal ein Hippie, Papa, Du warst einmal ein Rapper, Papa, Du warst ein ganz anderer Mensch.
    Nun vergeht dein Leben zwischen Wachen und Schlafen,
    Zwischen Kühlschrank und Glotze,
    Zwischen Naschen und Zappen,
    Schmeiß deine Pantoffeln zum Fenster raus,
    Erinnere dich doch, du warst einmal eine ganz freche Maus.
    Du warst einmal ein Biker, Papa, Du warst einmal ein Ohoho, Papa, Du warst einmal ein Fußballfan, Papa, Du warst ein.
    Wenn meine Kinder mich jemals fragen werden: »Liebes Papulchen,
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